Eine zwölfjährige Ausreißerin findet Unterschlupf bei einem Auftragsmörder. Viel mehr möchte ich noch gar nicht verraten, außer dass es harte Kost geben wird. Und dass Jesus, enttäuscht von seinen selbstgerechten Fans, einen neuen Job übernommen hat.


Ein märchenhafter Thriller mit Blutbad, Vefolgungsjagd und Sieg der Gerechtigkeit.

Kaum saß Jesus im Tempel und hoffte auf ein wenig Ruhe, schon umringten ihn die Leute und jubelten ihm zu. Lächelnd überging er die ersten zaghaften Bitten, sie an seiner Weisheit teilhaben zu lassen, doch als die Menge ihn in rhythmischen Sprechchören aufforderte und gar nicht davon abließ, gab er seufzend einige Beispiele zum Besten.

Gerade hatte er sich in Stimmung geredet und begonnen, es zu genießen, wie die Umstehenden an seinen Lippen hingen und jedes seiner Worte verschlangen, da kamen diese Schlipsträger in den Raum, gefolgt von Uniformierten, die eine Frau mit sich schleppten. Einer der Schlipsträger war Jesus wohlbekannt: Er nannte sich Professor und hielt sich allein kraft seines Titels für besonders schlau und allen Anderen überlegen. Er setzte sein höhnischstes Lächeln auf und sah den Meister herausfordernd an. Jesus wusste, was jetzt kam: Der Professor würde zwar Interesse an seiner Meinung suggerieren, doch in Wirklichkeit diente das nur einem Zweck: Ihn zu kompromittieren. Jeder Vorwand, ihn öffentlich als Nichtsnutz erscheinen zu lassen und Zweifel an seiner Moral zu sähen, war ihnen Recht.

Sie sagten: "Lehrer, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. In dem Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Du nun, was sagst du?"

Jesus war nervös. Um Zeit zu gewinnen, malte er sinnlose Zeichen in den Sand. Seine Widersacher beeindruckte das nicht: sie insistierten auf einer Antwort. Da erhob er sich, breitete die Arme aus, um sein Gewand beeindruckender wirken zu lassen, und sagte: "Derjenige, der ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."

Auf den Gesichter der Gelehrten war die Enttäuschung unübersehbar, durchaus gemischt mit erheblicher Anerkennung: Das war ein wirklich cleverer Schachzug. Doch eine alte Dame mit schneeweißem Haar drängelte sich aufgeregt ihren Weg durch die Menge, gefolgt von einer jüngeren Frau. Es kostete sie einige Mühe, sich zwischen den gebannt von Jesus zum Professor Blickenden hindurchzufädeln. "Meister", keuchte sie, "der, der ohne Sünde ist, hat heute keine Zeit. Doch er hat mich mit seiner Vertretung beauftrag. Sie gestatten?" Die zweite Frau fügte hinzu: "Und ich werde meiner Mutter helfen, wenn es Recht ist."

Die Uniformierten brachten die Frau nach draußen auf den Vorplatz des Tempels. Die Menge folgte. Der Professor zwinkerte Jesus siegessicher zu. Jesus hingegen resignierte. Die Beiden, die unsägliche Alte und ihre grässliche Tochter, trugen neben allem möglichen anderen Geschmeide die Insignien seines Fanclubs, Kreuz und Fisch. Es war klar, sie hatten alle seine Schriften gelesen, kannten alle seine Alben und konnten den Text jedes Songs auswändig. Sie zitierten ihn, wann immer es opportun erschien. Ihr erster Gedanke am Morgen und ihr letzter am Abend gehörte ihm, er verlieh ihrer Existenz erst einen Sinn, wo ohne ihn bloße Leere wäre. Doch verstanden....verstanden hatten sie ihn nicht. Unter frustriertem Kopfschütteln folgte er den Anderen ins Freie.

Denn als die Alte der gefesselten Ehebrecherin Auge in Auge gegenüberstand, bückte sie sich ohne zu zögern nach dem ersten Stein, gegen den ihre Fußspitze stieß. Er war gerade faustgroß, trotzdem gelang es ihr nicht, ihn aufzuheben. Ihre Tochter half, gemeinsam gelang das Unterfangen. Jesus sah gerade noch ihren Versuch, gemeinsam den Stein gegen die wehrlose Frau zu werfen. Nun, sie scheiterten, schafften es kaum die halbe Entfernung weit. Jesus atmete auf.

Doch nun erhob sich die Menge. Der erste Stein war geworfen, zwar nicht von dem, der frei von Sünde ist, aber immerhin von seiner Stellvertreterin und ihrer hilfsbereiten Tochter. Zwar hatte er sein Ziel nicht erreicht, doch das machte nichts, denn es lagen genügend Steine herum, derer sich nun jeder bemächtigte, der sich immer schon im Sinne der Gerechtigkeit verdient machen wollte.

Das leuchtende Rot des Blutes, das begeisterte Johlen der Menge, das triumphierende Grinsen des Professors - all das nahm Jesus nicht wahr. Als er sich mit hängenden Schultern, tief deprimiert von dieser Niederlage, abwandte und sich auf den langen, einsamen Weg zu einem weit entfernten Ort machte, wo ihn ein Neuanfang erwartete, oder - wer konnte es wissen - ein schleichender, trauriger Tod, blieb ihm Eines im Gedächtnis: Das Antlitz der Alten, ihr wallendes, weißes Haar, ihr groteskes Gesicht mit den würdevollen Falten und den verhärmt herabhängenden Mundwinkeln, ihre makellose Kleidung mit der sündhaft teuren, den Umständen unangemessenen Fellweste. Hätte er sich bloß eine Rechtsabteilung leisten können, dachte er zuletzt, bevor er entlang seiner Reise in eine tiefe Trance fiel, dann hätte er seinen Fanclub verklagt.


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Der Hüter des Märchenwaldes




































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