Ein gewöhnlicher Tag
Wie
eine frische, saftige Orange
schimmerte die Sonne durch den Frühdunst, als Rolf verschlafen
nach seinem
beharrlich piependen Wecker tastete. Es war ein schöner,
ausgesprochen
melancholischer Morgen. Einem anderen Menschen als Rolf wäre
das aufgefallen. Er
jedoch hatte keinen Blick dafür. Nach dem
vollständigen Aufwachen und bevor die
übliche Hektik alles andere unterordnete, kam und verging ein
kurzer Moment der
Klarheit, ohne dass Rolf auch nur seinem hungrigen Magen allzu
große
Aufmerksamkeit geschenkt hätte, der nach einem ausgiebigen
Frühstück mit
frischen Croissants verlangte. Eine Zwiebel, die in der Küche
lag, beobachtete
Rolf dabei, wie er das Frühstück wieder einmal
ausfallen ließ, hastig im Stehen
einen Espresso schlürfte und anschließend eiligen
Schrittes das Haus verließ.
Die Zwiebel wusste, wann der Mann das letzte Mal geweint hatte. Nicht
weil er
traurig gewesen wäre, wozu er aus Sicht der Zwiebel allerlei
Anlass besaß - er
hatte geweint, als er in Vorbereitung des sonntäglichen
Mittagessens ihrer
Artgenossin mit einem scharfem Messer zu Leibe gerückt war.
Und von da an zogen
die Ereignisse und Besonderheiten dieses Tages schemenhaft an Rolf
vorbei,
während er ein einziges Ziel verfolgte, nämlich zu
erledigen, was von ihm
verlangt wurde. Beiläufig nahm er die Gefahr zur Kenntnis, die
seiner ständigen
Hast innewohnte, indem er zunächst während der Suche
nach einem Parktplatz
einen Radfahrer übersah, und danach beim Überqueren
der Straße beinahe vor ein
Auto lief. "Idiot" schimpfte Rolf, und nur er selbst konnte sagen,
wieviel Selbstkritik in diesem Ausdruck lag.
Kira
schien es, als schwirrten
Tausende von Menschen geschäftig um sie herum, doch von ihr
nahm niemand Notiz,
wie sie da schweigend und lustlos an einer Reihe geparkter Autos
entlangging.
Sie fühlte sich so bedeutsam wie ein einzelner Grashalm, den
der Wind hin und
herwirft. Ob das wohl zum Erwachsensein dazugehörte, sich
selbst so wichtig zu
nehmen, überlegte sie. Ihr gefiel diese Erwachsenenwelt ganz
und gar nicht. Papa
war das beste Beispiel: Nie hatte er Zeit, nie hörte er ihr
zu. Endlich war es
ihr gelungen, sich mal wieder mit ihm zu verabreden, und schon bereute
sie es. Mit
schönen Worten und Schmollen und Beleidigtsein und ein paar
Tränchen hatte sie
ihm zu verstehen gegeben, dass er ruhig mal wieder ein paar Stunden
für seine
Tochter opfern könne, doch jetzt malte sie sich seine Stimmung
aus, und schon
war ihr klar, dass sie wie immer enttäuscht sein
würde. Dabei war er doch ihr
geliebter Vater - was stand denn da bloß zwischen ihnen und
schien so
unüberwindlich, dass ihnen nie auch nur einige wenige
harmonische Stunden
vergönnt waren? Sie kam an einer Mauer vorbei, auf der einige
Glasscherben
lagen, anklagende Überbleibsel einer Flasche Bier. Skeptisch
betrachtete sie
die Gebäude jenseits der Mauer und dachte an ein Wort, das sie
neulich
aufgeschnappt hatte: "Vergänglichkeit".
Das
Treffen mit Papa begann genau,
wie Kira es hatte kommen sehen. Als erstes rief er an und
erklärte, er würde
sich eine halbe Stunde verspäten. Er müsse noch Dinge
zu Ende bringen im Büro,
er könne die anderen unmöglich hängen
lassen. Kira steckte seufzend ihr Telefon
zurück in die Tasche. Was waren das denn für andere,
für die er sich da so sehr
aufopferte? Seine Kollegen, die heimlich Witze über ihn
machten - das wusste
sie, weil einer von ihnen der Vater ihrer Schulfreundin war und
manchmal aus
dem Büro erzählte. Der Chef, der sich nach drei
Jahren immer noch nicht Papas
Namen merken konnte. Und irgendwelche chinesischen Auftraggeber, oder
waren es
Bayern, die Papa überhaupt nicht kannte, die er noch nie
gesehen hatte. Na,
immerhin hatte er es nicht gewagt, ihr ganz abzusagen.
Kira
verbrachte die Wartezeit
damit, melancholisch vor sich hin zu starren. Dann kam Papa, und sie
gab ihm
wie immer ein Küsschen und spürte seine
Geistesabwesenheit. "Was sollen
wir unternehmen?" fragte Papa mit dem Enthusiasmus von Stacheldraht,
und
Kira wünschte sich, der Nachmittag möge ganz, ganz
schnell vorübergehen. Wie
sie diese Frage verabscheute. Nichts wünschte sie sich
sehnlicher, als dass
sich Papa einmal, nur ein einziges Mal, selbst eine tolle gemeinsame
Unternehmung ausdachte. War das denn zuviel verlangt? Sie zuckte die
Schultern
und murmelte: "Weiß nicht." Ziellos setzten sie sich in eine
beliebige Richtung in Bewegung.
Doch
dann gelangten sie auf einen
Marktplatz. Obst und Gemüse in leuchtenden Farben erregte
Kiras Aufmerksamkeit,
lenkte sie für einen Augenblick von ihrem Kummer ab, und dann
war da dieser
Mann und betrachtete ausgiebig die Erdbeeren. Bedächtig
wählte er ein Exemplar
aus. Er hielt es in die Höhe, schützend umgab seine
Hand die verwundbare, rote
Köstlichkeit, während er laut und für alle
Umstehenden vernehmbar verkündete,
er habe die perfekte Erdbeere gefunden, und hier sei sie also: seine
persönliche
perfekte Erdbeere.
Kira
stand vor Staunen der Mund
offen. Da lagen Tausende von Erdbeeren, und dieser Mann machte sich
tatsächlich
die Mühe, eine davon
auszusuchen, und
jetzt freute er sich ihrer mit einer Freude, die auf seine Umgebung
ausstrahlte,
ein Lächeln in die Gesichter der Menschen zauberte, es war
kaum zu fassen,
selbst Papa konnte sich dem Zauber nicht entziehen, er blieb stehen und
sah zu
und freute sich mit dem fremden Mann, der sein Glück gefunden
hatte in der
kleinen Erdbeere, die er beschützte und bewunderte.
Gerade
noch war die Welt in
gewohnter Weise in schemenhaftem Grau an Rolf vorbeigesaust, in welches
sich,
roten Blitzen gleich, der Ärger über seine
eigenwillige Tochter gemischt hatte,
die ihn unbedingt hatte sehen wollen und jetzt nicht einmal eine Idee
hatte,
was sie unternehmen könnten. Nun war etwas
Außergewöhnliches geschehen, das er
noch gar nicht überblicken konnte: Gestochen scharf und in
unmissverständlicher
Klarheit sah er die Erdbeere in der Hand des fremden Mannes und seine
überschwängliche Freude, die sich in Kiras Gesicht
widerspiegelte. Da wusste
er, was er zu tun hatte. Geduldig stand er an, bis er an der Reihe war.
"Welche Schale möchtest du, Kira?" fragte er und
zeigte auf eine,
die ihm besonders gut gefiel. Kira konnte es kaum fassen, denn es war
genau die
Schale, die auch sie ausgewählt hätte.
Die
Erdbeeren waren köstlich, und
Kiras innere Freude war es auch, denn als nächstes schlug Papa
vor: "Lass
uns Karussell fahren!" Er nahm ihre Hand und ging zielstrebig auf das
Monster zu, mit dem Kira bei ihrem letzten Jahrmarktbesuch
geliebäugelt hatte.
Papa hatte es ihr ausgeredet, "soviel Geld für solchen Mist,
und hinterher
kotzt du nur die guten Pommes aus." Als Kira jetzt die sich hebenden
und
senkenden Krakenarme sah, die vielen Drehungen der kleinen Gondeln,
bekam sie ein
bisschen Angst. Hatte sie wirklich einmal mit diesem Ding fahren
wollen? Doch
sie war ja nicht allein. Papa war bei ihr, diesmal wirklich, er
würde sie
beschützen wie eine Erdbeere in seiner Hand. Und das
Karussell, wie der ganze
Nachmittag, war wirklich klasse!
Ein
gewöhnlicher Tag
Ein zunächst gewöhnlicher Tag im Leben des
abgehetzten Rolf und seiner traurigen Tochter Kira. Doch ihr Treffen
nimmt eine unerwartete Wendung.
Eine Bildergeschichte. Über Feedback freut sich: Nicolas
Thon
Vollständiger Text: