Klaas Kugel

 

Über Feedback freut sich: Nicolas Thon
 
Der Fluggast im schlecht sitzenden, altmodischen Anzug richtet Seitenscheitel und Krawatte, vergleicht zum dritten Mal die Sitznummer mit der Angabe auf seiner Bordkarte. Er sieht sich um. Drei Reihen weiter vorne ist ein freier Platz. Daneben am Fenster kauert ein beigegrau gekleideter Herr mit beigegrauer Haut und beigegrauem, wirrem Haar.

"Sie gestatten?"

"Bitte sehr."

"Ben Ziehner. Hallo." Sie geben einander die Hand. "Angenehm. Klaas Kugel."

"Klaas Kugel? Hahaha, das ist nicht schlecht. Was wird die Zukunft denn bringen? Hoffentlich nicht den Elektromotor."

Ben Ziehner lacht. Klaas Kugel lacht nicht. Eine Flugbereiterin eilt herbei. Sie trägt üppig Lippenstift, aber kein freundliches Lächeln. Sie lässt sich ihre Amüsiertheit nicht anmerken und verlangt streng, noch einmal die Bordkarte zu sehen. "Dies ist nicht ihr Platz."

Er zeigt hinter sich. "Dort kann man nicht sitzen."

"Es darf nicht jeder Passagier seinen Platz aussuchen. Das verzögert das Boarding und beeinflusst die Balance des Flugzeugs. Wir wollen diesmal eine Ausnahme machen. Aber eigentlich geht es nicht. Haben sie das verstanden, Herr Ziehner?"

"Ben Ziehner, jawoll. Ausnahme, verstanden."

Der Beigegraue richtet sich auf. Wendet sich um. Dunkle Knopfaugen huschen hinter ihrer Nickelbrille hin und her. Aus ihrer Sicht finden sie nichts Anstößiges. Natürlich ist ihm die in ihren Sitz gelümmelte junge Frau im unglaublich weiten Pulli aufgefallen, unter dessen Kapuze etliche Piercings, eine Stupsnase und einige grüngefärbte Haarbuschel hervorlugen. Die Triebwerke starten, die Maschine rollt Richtung Startbahn. "Früher hätte es sowas nicht gegeben", moniert Ziehner.

"Ich befasse mich tatsächlich nicht so sehr mit der Vergangenheit." Seinem imaginären Handgepäck entnimmt Klaas vorsichtig einen imaginären Gegenstand, drapiert ihn sorgfältig auf seine Oberschenkel. Er lächelt. "Meine Kristallkugel gehört zu mir wie mein Name. Sie erwartet nicht, dass dieses Flugzeug entführt wird. Es wird mit keinem Wolkenkratzer kollidieren. Auch fliegt der Copilot in suizidaler Absicht gegen keinen Berg. Wir haben genug Treibstoff und keine Bombe an Bord, die Fenster sind fest verschraubt, die Gänseschwärme wählen eine andere Route. Ein paar Turbulenzen, ansonsten erwartet und ein ruhiger Flug. Dies ist meine letzte Flugreise, wissen sie? Ich war noch niemals in New York. Ich erfülle mir einen jahrelangen Wunsch. Doch man soll nicht fliegen, es ist unverantwortlich."

Das Flugzeug biegt auf die Startbahn ein und hält. Ben Ziehner lockert seine Krawatte und korrigiert den Seitenscheitel. "Klimaveränderungen hat es immer schon gegeben." Die Triebwerke heulen auf. Wie ein Faustschlag in die Magengrube drückt es Klaas Kugel in den Sitz. Der Gegenstand von über 240 Tonnen Gewicht, der in fulminanter Beschleunigung über die Piste rumpelt, wird fliegen - das lehrt die Erfahrung, doch es widerspricht jeglicher Intuition.

Die 240 Tonnen verlassen den Erdboden. Den erhebenden Moment wollte Klaas Kugel genießen. Er betrachtet enttäuscht die tiefhängenden Wolkenfetzen, wendet sich wieder seinem Nachbarn zu:

"Haben sie eine Tochter?"

"Ja, schon, aber...?"

"Mein Freund - stellen sie sich vor, da kommt irgendein Schurke und will ihre Tochter vergewaltigen. Gerade noch rechtzeitig kommen sie hinzu und können es verhindern. Und nun sagt der Schurke 'nö, wieso, Vergewaltigungen hat es immer schon gegeben'. Was sagen sie dann, Herr Ziehner? Sagen sie 'ach so, stimmt ja, dann kommt es auf eine mehr ja wirklich nicht an'? Würden sie so antworten, Herr Ziehner?"

Ziehners drohende Grimasse ist zu dicht vor Kugels Brille, um sie scharf zu erkennen. Scharf ist zumindest sein Mundgeruch. "Ich würde kurzen Prozess machen mit dem Kameltreiber. Und mit den Politikern, die ihn ins Land gelassen haben. Kurzen Prozess, das sage ich ihnen."

Klaas Kugel unterbricht ihn. "Das habe ich mir gedacht." Er ignoriert die Anschnallzeichen und drängelt sich vorbei. Etwas kurzatmig nimmt er Platz neben der jungen Frau. Sie geben einander nicht die Hand. Es ist für Klaas Kugel nicht ersichtlich, ob etwas unter der Kapuze Notiz von seinem Platzwechsel nimmt. Hier kann er in Ruhe sitzen, einfach nur sitzen.

Das Mädchen packt den Laptop aus, fährt ihn hoch und wartet. Es wird Turbulenzen geben unterwegs, das ist sicher. Klaas Kugel langweilt sich. Er betrachtet das Mädchen nun doch mit gewisser Neugier. Mit so langen Fingernägeln hat er noch nie jemand so flink einen Computer bedienen sehen. Der Pulli ist dunkel, die Aufnäher sind schwarz auf weiß, Pipi Langstrumpf, Nazis raus, Viva la revolución. Er ist beinahe ein Gewand, reicht zu den Knien, hüllt in der jetzigen Sitzposition den gesamten Körper ein. Auf den zweiten Blick gibt die Kapuze, die faszinierende Kapuze, weitere Geheimnisse preis: Verblüffend lange, tiefschwarz getuschte Wimpern, ozeanblaue Augen, die ihre Umgebung aufmerksam beobachten. Ein Schal in Regenbogenfarben. Das Kabel eines Paars Kopfhörer. ¿Por dónde saldrá el sol? singt eine Stimme über das sonore Brummen der Triebwerke hinweg in loser Folge, die Lautstärke direkt im Ohr muss gewaltig sein. Ein schelmisches Lächeln. Eine herausgestreckte Zunge. Und, als er dem herausfordernden Blick der blauen Augen standhält, Schulterzucken.


Nahe der Atlantikküste bereitet das Kabinenpersonal den Service vor. Klaas betrachtet auf den Monitoren anderer Reisender die Filmauswahl, für jeden Geschmack der passende Schund. Ben Ziehner schnarcht wie ein alter Diesel, es übertönt selbst die Musik der jungen Frau. Klaas Kugel reißt einige Seiten aus dem Bordmagazin und ballt sie zu einer Rundform, die er drei Reihen nach vorne wirft. Volltreffer, der Nazidreck sieht sich verstört um und richtet instinktiv den Scheitel. Im Cockpit färbt sich das Display des Wetterradars abrupt rundum lila. Der Kapitän bittet um eine andere Flughöhe. Negativ, sagt die Flugsicherung, dichter Verkehr über und unter ihnen. "Ping", die Anschnallzeichen leuchten auf. Das Mädchen weckt den Laptop aus dem Standby und beginnt zu tippen.

Die linke Tragfläche sackt ab, dann die Nase, ein Essenstrolley hoppelt führungslos Richtung Business Class. Draußen blitzt es spektakulär. Der Pilot korrigiert die Fluglage, der Trolley saust zurück, den empfangsbereiten Armen der Flugbegleiter entgegen. Jetzt sinkt der Flieger abrupt um Hunderte Fuß, die Essen auf dem Trolley kleben unterm nächsten Zwischenboden, der Sicherheitsgurt zerrt an Klaas Kugels Schultern, sein Bauchgefühl meldet das Eintreffen des lustigen Achterbahngefühls in gut ausgeprägter Form. Die ersten Mägen reagieren gereizt. Das Mädchen hält den Laptop fest, ihr Lächeln ist unbeeindruckt.

Eben hat sie sich ins Unterhaltungssystem des Flugzeugs gehackt, jetzt spielt sie ihren Inhalt auf. Vor Klaas Kugels Augen schaltet sich flackernd der Monitor ein, obwohl er es gar nicht beabsichtigte. Sie fliegen eine dreifache S-Kurve, halten die Flughöhe mit zweihundert Fuß Genauigkeit, doch es fühlt sich an wie mehrfache Loopings, 200 km/h auf einer Buckelpiste, Trampolinstrünge, Fallschirmsprung, alles gleichzeitig. Das Mädchen setzt Klaas seine Kopfhörer auf und stöpselt sie ein.

Angeschnallt, verkabelt und gebeutelt wie die anderen Passagiere, starrt er gebannt auf den Monitor. Dort sieht er: Greta Thunberg beim Weltwirtschaftsforum, wie sie erklärt: "Ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“

Als nächstes irritieren dumpfe Bassklänge die Nerven in seinem Unterleib mehr, als es die Turbulenzen vermögen, und eine heisere Stimme sind sich in abgehackten Sätzen einem Refrain entgegen, der lautet: "I'm a bad guy. Dah!" Dazu sieht man eine junge Frau mit unstillbarem Nasenbluten, der eine Handvoll Spritzen auf einmal in den Rücken gegeben werden, und das ist noch der appetitlichste Part. Das Wummern des Basses lässt ebensowenig nach wie das Unwetter, die Bilder auf dem Monitor sind unerträglich, und doch ist es schwer, den Blick von ihnen zu reißen. Die Mehrzahl der Passagiere jedenfalls guckt hin. Die ersten greifen zu den Spucktüten.

"Wer ist denn die Künstlerin?" Klaas muss seine Frage wiederholen, nachdem sie beide ihre Kopfhörer abgenommen haben. "Kennste sowieso nicht", denkt sie, doch dann fasst sie sich an den Kopf und korrigiert sich: Die hat doch die ganzen Grammys gewonnen, das hat der Opa bestimmt mitgekriegt.

Natürlich - jetzt fällt es ihm ein: Das ist diese Billy Eilig, oder so ähnlich, die den Grammy gewonnen hat als Jüngste überhaupt, oder so ähnlich. Er hat noch gedacht, es gehe aufwärts mit der zeitgenössischen Popmusik, wenn sie endlich wieder eine rebellische Botschaft transportierte. "Ich kann mir das nicht angucken, tut mir leid, es sind füchterliche Bilder, aber mir gefällt die Musik", brüllt er dem Mädchen ins Ohr. Das Stück ist zuende. Wieder Greta Thunberg, dann Donald Trump in Großaufnahme, unterlegt von Beethovens Fünfter in brachialen Speed Metal-Sound. Schnelle Schnitte zwischen Kriegsszenen und Silvesterfeuerwerk, Explosionen, Leichen, fröhliche Gesichter. Das Flugzeug schüttelt sich, sackt erneut rasant ab. Schreien, Kreischen, Würgelaute von allen Seiten. Säuerlicher Geruch, auch Hartgesottene nehmen die Kotztüte. Klaas fragt: "Darf ich das alles gut finden?" Verständnisloser Blick der jungen Frau.

"Auch ich habe rebelliert. Damals, als ich jung war. Es ging ja auch gegen meine Eltern und die Leute ihrer Generation - nicht nur gegen den Scheiß, den sie gemacht haben. Wir trugen andere Klamotten und hörten andere Musik, aber die Klamotten waren genauso schrill und die Musik genauso laut und die Erwachsenen waren genauso verstört. Wenn mir da ein Sechzigjähriger gesagt hätte, er findet das gut, was ich mache, wäre ich ausgerastet. Rebellion ist immer auch ein Generationenkonflikt. Damals ging es gegen den Faschismus, den kalten Krieg, die Aufrüstung. Heute geht es gegen Ausländerfeindlichkeit und Klimakatastrophe und dagegen, dass Computer und Roboter das Denken übernehmen. Ihre Generation gegen meine. Aber ich bin auch gegen meine Generation, jedenfalls gegen solche Elemente, wie da vorne eines sitzt. Ich will sie aufrütteln und weiß nicht wie, das kann nur die Jugend, das kann Greta und das können sie. Ich fürchte nur, Greta Thunberg kommt dreißig Jahre zu spät, aber das ist nicht ihre Schuld. Ich jedenfalls bin nunmal Teil dieser alten, vergehenden Generation, die überhaupt nicht versteht und auch nicht verstehen will, was sie angerichtet hat. Ich sage ihnen: Auch ich habe Angst. Habe Panik. Zwar habe ich das große Glück, nicht mehr allzu lange zu leben, wenn es unerträglich wird auf diesem Planeten, und ich habe auch keine Nachkommen, um die ich mir Sorgen machen müsste. Trotzdem lässt mich das nicht kalt. Also frage ich: Ich mag die Musik - aber darf ich das überhaupt?"

Für einen flüchtigen Augenblick huscht die Kapuze nach hinten. Ein Lächeln. Das Flugzeug ist wieder wings level, das Unwetter vorbei. Die Flugbegleiter sammeln gefüllte Papiertüten ein, beruhigen empörte Passagiere, das gewählte Unterhaltungsprogramm setzt an dem Punkt wieder ein, an dem es unterbrochen wurde. Der Service wird nachgeholt, etliche Mahlzeiten bleiben übrig. Bei seiner zweiten Portion Chicken Curry fragt Klaas: "Können sie sich eigentlich auch in die Steuerung des ganzen Fliegers hacken?"

"Das wäre ja schön dumm, ich kann ja überhaupt nicht fliegen." Nachdenklich stochert sie im veganen Essen. "In Wirklichkeit kann ich auch das Unterhaltungssystem nicht hacken."

"Wie bitte?"

"Manchmal ertrage ich die Wirklichkeit nicht. Dann verlasse ich sie einfach."

Die Agenturmeldung schließt später mit den Worten: "Die Maschine landete mit zehnminütiger Verspätung sicher in New York, verletzt wurde niemand."





nicolas thon: fotografie -schreiben - segeln
home fotos
texte
segeln über mich kontakt & impressum

Klaas Kugel




































zurück zur Übersicht