Kesselzerknall

Bitterfeld, 27. November 1977: Der bis heute letzte Kesselzerknall (ja, so heißt das!) auf deutschen Schienen fordert neun Todesopfer. Die Öffentlichkeit erfuhr nur in knappen Worten davon, der Untersuchungsbericht blieb bis zur Wende unter Verschluss. Meine Geschichte folgt, soweit recherchierbar, den Fakten. Über Geschehnisse und Stimmung auf dem Führerstand lässt sich allenfalls spekulieren - aber gerade sie interessierten mich.

Über Feedback freut sich: Nicolas Thon
Der Zug kam in Sicht. Erleichtert atmeten die Reisenden auf. Eben noch hatten sie in der feuchten Kälte des Novemberabends gefröstelt, wieder und wieder nervös auf die Uhr gesehen und sich gefragt, ob der Zug nach Leipzig überhaupt noch irgendwann eintreffen werde. Jetzt freuten sie sich lächelnd auf ihr beheiztes Abteil und die entspannte Reise hinter dem Wunderwerk der Ingenieurskunst, das majestätisch und Zuversicht einflößend auf den Bahnhof zudampfte. Die Lok teilte diese Freude und Zuversicht nicht. Sie hatte resigniert. Denn sie, und sie allein, wusste um die Unausweichlichkeit des bevorstehenden Szenarios.


Eine Dampflokomotive verfügte, man musste es zugeben, über eingeschränkte Möglichkeiten, sich Menschen verständlich zu machen. Immerhin hatten die Ingenieure einige technische Hilfsmittel eingebaut. Für den Fall knapp werdenden Wassers gab es zum Beispiel die Schmelzsicherungsschrauben: Man ordnete sie geschickterweise über der Feuerbüchse an, und bevor der Kessel überhitzte, löschte das restliche Wasser die Kohlen. Die Lok blieb, ein bisschen hilflos aber weitgehend unversehrt, stehen. Das war genial, aber es war nicht das Wesentliche.

Viel wichtiger bedeutender nämlich war das Verhältnis zwischen der Maschine und den Menschen, die sie bedienten. Ein erfahrener Lokführer bediente seine Lok mit Stolz und Einfühlungsvermögen. Er kannte jeden Hebel und jedes Geräusch, musste seine Lok nur betrachten und ihr lauschen, um zu wissen, was sie auf dem Herzen hatte. Und auch im Betriebswerk waren es viel weniger die prüfenden Hammerschläge auf Bolzen und Gelenke, die den Arbeiter die notwendigen Arbeiten erkennen ließen. Er mochte hämmern und messen und prüfen, doch vor allem war da sein liebevoller, ehrfürchtiger Blick auf das riesige Meisterwerk der Technik, vergleichbar dem Blick, mit dem ein Kunstliebhabers ein Gemälde bestaunte, es im Ganzen und allen Details bewunderte, seine Botschaft enträtselte und sich, innerlich bereichert, tief zufrieden und lächelnd, würdevollen Schrittes abwandte.

Darüber dachte 01 1516-2 am Sonntagmittag ausgiebig nach. Die alte Maschine seufzte. Eine gute Wartung einer Dampflok empfand sie - ja! - als vollkommenes Kunstwerk. Doch ach! Nein, sie hatte nicht persönlich etwas gegen ihre neuen russischen Elektro-Kolleginnen. Keineswegs. Nur kam mit ihnen ein neuer Zeitgeist, und ihm entsprang eine neue Generation von Bahnarbeitern. Die "Guten" - für die der Betrieb einer Dampflok eine Partnerschaft, ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Maschine bedeutete - wurden seltener. Die alte Lok tat sich schwer, die Gedanken der "Neuen" zu lesen oder gar zu beeinflussen. Sie waren daran gewöhnt, den Strom einzuschalten, und das Ding fuhr los. Tägliche hingebungsvolle Pflege - das hieß nun: Aufwand.

Doch sie war mit den Jahren genügsam geworden. Sie regte sich nicht mehr auf über Dinge, die sie nicht ändern konnte. Also dachte sie nicht länger über die Entwicklung nach, sondern entspannte sich. Es hatte Zeiten gegeben, da wollte sie immer nur rennen und rennen und rennen. Sie hatte sich gewünscht, dass man ihr statt einer bloßen Nummer einen richtigen Namen geben würde, "Wilde Hilde" oder "Magische Mathilde". Jetzt trug sie mit bescheidener Zufriedenheit den Namen 01 1516-2. Nach dem ganzen Umbau mit neuem Kessel, neuen Windleitblechen und schönen, neuen Speichenrädern fühlte sie sich fit wie eh und je. Nach wie vor tat sie nichts lieber, als unter den ehrfürchtigen Blicken der Leute mit Volldampf über die Strecke zu galoppieren und jeden Kilometer zu genießen, als könne es der letzte sein. Doch sie hatte sich oft genug austoben dürfen, um jetzt gegen eine gemütliche Pause keine Einwände zu erheben. So störte es sie nicht, dass man sie nach der letzten Inspektion geradewegs in den Schuppen gefahren und als Reserve eingeteilt hatte. Wohlig-warm köchelte in ihr das Ruhefeuer.

Und sie protestierte auch nicht dagegen, dass man die Inspektion für abgeschlossen erklärt hatte, ohne die zugesinterten Schmelzproppen zu erneuern. In früheren Zeiten hätte sie sich gesträubt, so loszufahren, hätte den Dienst verweigert, sich keinen Meter vom Fleck bewegt. Jetzt vermutete sie, es stecke wieder einmal ein Lieferengpass dahinter, und die fehlenden Teile würde bei nächster Gelegenheit nachgeliefert. "Dann ist das eben so", sagte sie sich.


Zur gleichen Zeit, als 01 1516-2 sich die Zeit mit müßigen Gedankengängen vertrieb, dampfte 03 2121, eine ihrer leichteren Schwestern, Richtung Berlin Ost. Der Heizer schaufelte grimmig Kohle in die Feuerbüchse. Seit zwanzig Jahren waren er und sein gewohnter Kollege ein eingespieltes Team, einig in der Liebe zur treuen Lok und gemeinsam mit ihr jeder Situation gewachsen. Doch der machte eine Fortbildung auf der E-Lok. Der junge Lokführer fuhr für gewöhnlich Dieselloks auf der Strecke Berlin-Rostock. Er beäugte den von Kopf bis Fuß schwarz eingestaubten, aus allen Poren schwitzenden Mann, mit dem er sich heute den Führerstand teilen musste, allenfalls aus dem Augenwinkel - es war ihm zuwider wie die Schwaden von Rauch und Dampf, die aus der Höllenmaschine quollen. Hin und wieder riss er hektisch an den störrischen Bedienhebeln, die jeder gefühlvollen Hand geschmeidig folgten, um sanft in der gewünschten Stellung einzurasten.

In der Hauptsache jedoch studierte er den Streckenplan, als handele es sich um einen spannenden Krimi. Wenn er eine Pfeiftafel darüber nicht vollständig übersah, betätigte er die Pfeife grundsätzlich volle zehn Sekunden lang. Der Heizer wollte ihm dieses Verhalten schon persönlich nehmen, bis er begriff, dass dem Kerl wirklich nicht bewusst war, wieviel Dampf das jedes Mal kostete. "Halt erwarten", sagte er nur. "Wie bitte?"

"Das Vorsignal. Haben Sie es nicht gesehen? Es steht auf 'Halt erwarten'." Der Lokführer richtete sich kerzengerade auf und schob die Brust raus. "Sie sind hier nur der Heizer, merken sie sich das", schnaubte er. 03 2121 rannte, ob sie es wollte oder nicht, unvermindert weiter. Dreihundert Meter voraus senkten sich - gerade noch rechtzeitig - die Schranken des Bahnübergangs. Im letzten Moment kippte das Hauptsignal auf "Fahrt". Und wieder ließ ein überlanges Schallsignal den Kesseldruck schwinden. Lokführer und Heizer umringten einander wie zwei Boxer, die mit erhobenen Fäusten darauf warteten, dass der Gegner sich eine Blöße gab. Die Lok hatte genug von diesem Schauspiel. Mit dem vorletzten Schluck Wasser löste sie ihre Schmelzsicherungen aus, löschte das Feuer und blieb stehen.


Und so kam es, dass, nachdem Lokomotive und Zug mit erheblicher Verspätung zum Ostbahnhof geschleppt waren, für die Rückfahrt eilig 01 1516-2 aus dem Schuppen gefahren wurde. Au ja! - voller Galopp war irgendwie doch befriedigender als sich verlierendes Gegrübel. Also los!, dem defekten Überhitzungsschutz zum Trotz, wenngleich mit einer weiteren Einschränkung. Heizer und Lokführer hatten, das wusste sie, bisher keinen erfolgreichen Tag. Statt der üblichen Suspendierung bekamen sie eine zweite Chance. Abgehetzt erklommen sie den Führerstand und würdigten einander keines Blickes. Die infernalische Hitze der Betriebstemperatur kontrastierte mit dem eisigen Schweigen zwischen ihnen. Doch die Lok vertraute darauf, dass sie ohnehin sensibilisiert waren, gerade heute, und die Betriebsleitung hatte es unmissverständlich gesagt: Die Vorräte mussten noch ergänzt werden.

Als nur schnell ein paar Kohlen in den Tender geworfen wurden, der D 567 ankoppelt war und der sinnlosen Versuch begann, die entstandene Verspätung aufzuholen, kamen 01 1516-2 erste Zweifel. Der trübe Tag ging freudlos über in eine frühe Dämmerung. In Bitterfeld tippelten die Wartenden hin und her, um ihre frierenden Zehen zu wärmen. Auch im nächsten Bahnhof bekam die Lok kein Wasser. Entpuppte sich ihre Genügsamkeit jetzt als Fehler? Sie wandte sich mit all ihrem telepatischen Geschick an den Lokführer. Doch das Letzte, was ihm in den Sinn gekommen wäre, war eine Lok, die mit ihm über fehlende Vorräte diskutierte. "Sie sind hier nur der Heizer, merken Sie sich das", schnaubte er ohne ersichtlichen Anlass.

Sie versuchte es beim Heizer - der vertrauten, guten Seele mit dem untrüglichen Gespür für ihre Signale. Doch er schaufelte wie von Sinnen. Sein Zorn glühte beißend heiß wie die Kohle in der Feuerbüchse. Leise murmelte er finstere Verwüstungen vor sich hin. Er wusste um das knappe Wasser. Doch es lag nicht in erster Linie in seiner Verantwortung. Und der Verantwortliche, dieser arrogante Wahnsinnige, sollte es gefälligst ausbaden. Zwei trockengeheizte Dampfloks am selben Tag - grandiose Leistung! Darüber würden sich dann die Vorgesetzten ihr Urteil zu bilden haben.

Was sollte, was konnte die Lok tun? Zorn gehörte nicht zu den Emotionen, die Menschen und Lokomtiven gemeinsam sind. Doch dies war kein Moment für philosophische Überlegungen. Sich eine Treibstange herauszureißen, war ihre einzige Idee. Es würde wehtun, womöglich das halbe Fahrgestell zerstören, doch die Fahrt wäre gestoppt. Allein darauf kam es an. Am Bahnsteig weinte ein frierendes, hungriges Kind und ließ sich auch davon nicht trösten, dass Papa versprach, Mama habe längst das Abendessen fertig. Ein kaltes Essen vor einer einsam wartenden Mama war eine noch schlimmere Vorstellung als einfach nur ein knurrender Magen. Was sollte werden, wenn der Zug überhaupt nicht mehr ankam?

Wäre er bloß nicht angekommen. Es war aber auch wirklich verhext: Die Treibstangenbolzen hatte man komplett erneuert. 01 1516-2 konnte an sich ruckeln, wie sie wollte, sie fand keine Schwachstelle. Für einen Moment überkam sie pure Verzweiflung. Als der Lokführer kommentarlos das Funkgerät nahm und für Bitterfeld einen Wasserhalt verlangte, erging sie sich nur noch in Galgenhumor angesichts dieser nicht zu überbietenden Ironie. So kehrte sie auf den letzten Metern doch resigniert zu der Auffassung zurück, sich besser nicht aufzuregen über Dinge, die inzwischen nicht mehr zu ändern waren. Sie wäre lieber auf einem Abstellgleis langsam verrostet, als das bevorstehende Spektakel zu bieten. Die Bremsen quietschten. Im Kessel schwappte das Wasser nach vorne. Der Zug hielt.

"Also gut", seufzte die Lok, "wenn dies mein Abgang ist, mache ich ihn ordentlich." Das Wasser schwappte zurück in Richtung der glühenden Heizfläche. Heizer und Lokführer entging das furiose Schauspiel. Umgeben von Bolzen, Stangen und Fetzen von Stahlblech, wirbelten ihre Leichen aufs Bahnsteigdach. Zweihundert Grad heißer Dampf mumifizierte das hungrige Kind. Die Glut, unverhofft der schützenden Höhle der Feuerbüchse entrissen, floh zum Nachbargleis. Zwei Waggons gerieten in Brand. Dem Kessel blieb wenig Zeit, sich von seiner Lok zu verabschieden. Er landete vierzig Meter vor ihren Trümmern und verschweißte sich haltsuchend mit den Gleisen.



 
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