Der alte Schoner

...segelt an einem Herrenhaus vorbei. Die Reisenden rätseln, was in dem ehrwürdigen Gemäuer vor sich geht. Version eins.

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Vollständiger Text:

Majestätisch gleitet der alte Schoner durch den Sund. Es dämmert bereits, geheimnisvoll steigt der Dunst aus dem Wasser, macht sich bereit, im Verein mit der Dunkelheit der Nacht die bewaldeten Ufer zu beiden Seiten der schmalen Rinne zu verhüllen. Von dem Wind, der am Tage über die Ostsee fegte, ist kaum noch etwas zu spüren. Das große Schiff segelt beinahe nur mit den obersten Metern seiner Segel. Ruhig zieht es seine Bahn, und nichts erinnert an die tosende Brandung, mit der es noch vor einer Stunde zu kämpfen hatte, während es sich Meile um Meile südwärts mühte. Jetzt gleicht es beinahe einem Geisterschiff.

Doch der drahtige Mann am Ruder, dessen Alter man kaum zu schätzen vermag, ist beileibe kein Geist. Er hat alles erlebt, alles gesehen, was die Welt zu bieten hat, das Meiste davon auf See - kaum etwas bringt ihn noch aus der Fassung, es umgibt ihn eine Atmosphäre tiefster Gelassenheit. Mit kundiger Hand steuert er sein Schiff durchs Fahrwasser, konzentriert blickt er voraus. Einer der zwölf Reisenden, die erschöpft und hungrig an der Schanz stehen, wendet sich um. Seine Augen treffen die des Kapitäns. Der legt zum Gruß die Handfläche an seine Mütze, klappt sie dann lässig in die Luft. Vertrauen. Diese Geste schafft Vertrauen. Nicht dass es nötig wäre. Sie kamen zu ihm auf der Suche nach Erholung. Nach Entspannung. „Euch erwartet eine Abenteuerreise“, verkündete er. Sie lachten und glaubten ihm nicht, doch er wusste es besser. Die See hält jeden Tag eine Überraschung parat. Endlose Flaute, plötzlicher Sturm, eine ruhige Ankerbucht und ein dramatischer Sonnenuntergang. Gischt klatscht ihnen ins Gesicht, während sie lernen, an Schoten und Fallen zu zerren mit all ihrer Kraft, bis sie die Nachricht, dass der Wind für den Rückweg ungünstig steht, als Herausforderung begreifen, der sich zu stellen zu ihrem größten Wunsch gerät, ihrem ungeträumten Traum, für einige Tage ihrem wahren Lebensinhalt. Hinter der nächsten oder übernächsten Biegung wartet nun der ersehnte Hafen.

Dicht stehen die Bäume am Ufer. Die Reisenden, schweigend und jeder in seiner eigenen Gedankenwelt, betrachten das üppige Grün des Waldes, wie es in der hereinbrechenden Dunkelheit allmählich schemenhaft verschwindet. Was mag wohl dahinter liegen? Eine Straße? Wohnhäuser, gar Dörfer, eine Stadt? Oder handelt es sich um ein undurchdringliches Dickicht, einen der letzten Urwälder Europas? Es wirkt so nah, als könne man es mit ausgestrecktem Arm berühren, und gleichzeitig unerreichbar fern. Zwischen Ufer und Wasser wiegt sich ein Schilfgürtel in der Abendbrise. „Seht mal“, ruft derjenige, der am weitesten vorne steht und zuerst erkennt, was sich zeigt, als sich das Blätterwerk teilt, „ein Herrenhaus“. Und richtig, hinter einer Lücke in den Bäumen, ein Stück landeinwärts und umgeben von einer weitläufigen Rasenfläche, steht ein prächtiges Anwesen. Im Dunst nur schemenhaft zu erkennen, scheint es unbewohnt und verlassen. Es könnte sich um eine verfallende Ruine handeln, im Halbdunkel ist das nicht auszumachen. Oder birgt das Gebäude ein Museum, liebevoll eingerichtet im Stil vergangener Zeiten, dessen heutige Gäste längst die alten Mauern verlassen haben?

Indem der Schoner weitertreibt, öffnet er den Reisenden den Blick auf die gesamte Fassade. Wie von einer unmerklichen Brise vertrieben, lichtet sich der Nebel. Das alte Gemäuer zeigt sich in voller, weißgetünchter, stuckverzierter Pracht. Hinter einem riesigen, repräsentativen Fenster des Erdgeschosses glimmt gedämpftes Licht wie von Kerzenschein. „James, den Cognak bitte“, sagt einer der Gäste mit nasal gekünstelter Feine-Leute-Stimme in die Stille hinein. Eine Mitreisende beginnt sich grazil zu bewegen, als trüge sie ein edles Kleid aus kostbarem Brokat zur Schau, dessen weite Röcke sie zu gemessenem Schritt zwängen. Plötzlich geht in einem angrenzenden Raum das Licht an. Man glaubt, hektisches Treiben zu erkennen. Das Diner scheint beendet, die Dienerschaft macht sich an die Arbeit.

Ein Fenster im Obergeschoss erhellt sich, dann ein zweites. Der Lichtschweif eines Scheinwerferpaares nähert sich mäandrierend dem Haus, leuchtet mal die Bäume an, mal die Fassade, bis ein Wagen das Herrenhaus umkurvt und in den Garten rollt. Eine Limousine. Ominös knirscht der Kies unter ihren Reifen. Der Fahrer steuert auf den Pavillon zu, zweifellos den Lichtsignalen folgend, die von dort gegeben werden. Eines der Lichter des ersten Stocks erlischt, statt seiner erglimmt eines im Erdgeschoss des Nordflügels. An Bord des Schoners macht eine Flasche Whiskey die Runde. Der Alkohol löst die Zungen der Reisenden und beflügelt ihre Phantasie - eifrig machen sie sich daran, über die Geschehnisse in dem rätselhaften Haus zu spekulieren. „Der Mörder ist immer der Gärtner“, behauptet Einer. „Wo ist nur Sherlock Holmes, der den Fall lösen muss?“ spekuliert ein Zweiter. „Igitt“, sagt eine Dritte“, wenn da nun wirklich ein Mord passiert? Und wir sehen einfach zu?“

Der alte Mann am Ruder schmunzelt. Ein Entenpaar schießt schnatternd und schimpfend aus dem Schilf, gefolgt von einem ganzen Schwarm Schwalben. Allmählich gleitet das Anwesen außer Sicht. Zu guter Letzt glaubt man das Getrappel von Hufschlägen zu hören, aber das ist wohl endgültig eine Vorspiegelung aus dem Reich der Phantasie. Jemand erwähnt unheilvoll die „sieben apokalyptischen Reiter.“ - „Es waren nur vier“, verbessert sein Nachbar, „und dies hier ist nur ein Einziger.“

***

„Wir haben gut gegessen“, sagte die Gräfin. Es klang wie eine nüchterne Feststellung, und niemand widersprach. Der Butler nahm es als Signal, in würdevoller Eile das Geschirr abzuräumen und in die Küche zu tragen, wo er das erschöpfte Mädchen zunächst aus seinem Schlummer erwecken musste, bevor es sich geschwind an den Abwasch begab. Die Gräfin schätzte es nicht, wenn es bei derlei Verrichtungen zu Verzögerungen kam. Der Graf nahm seine Serviette und betupfte seinen üppigen Schnauzbart. Seine Gattin quittierte es wie jeden Abend mit einem missbilligenden Schnalzlaut. Sie war zu der Überzeugung gelangt, der Mensch stamme von der gleichen Spezies ab wie, nicht der Schimpanse, sondern das Walross. Warum ausgerechnet ihr das Schicksal zuteil hatte werden müssen, sich anstelle eines stattlichen Ehemannes mit dem letzten Vertreter des Bindegliedes zwischen den Arten zu vermählen, konnte sie sich bis heute nicht erklären. Doch sie ertrug ihr Los vorbildlich, wie sie fand, führte ihren Haushalt tadellos und beklagte sich allenfalls in Form eines vorwurfsvollen „Tss.“

Der Graf hatte seinerseits ausreichend Grund zur Klage, hatte seine Frau es doch versäumt, ihm den ersehnten Sohn und Stammhalter zu schenken. Etwas war nicht richtig an seiner Anvertrauten - um das zu erkennen, genügte ein Blick auf die mageren Töchter, die einzig ihr Leib zu gebähren vermocht hatte. Nur zu Einem taugten diese Kreaturen: Sie vorteilhaft zu verheiraten. An Anmut mangelte es ihnen nicht, und - so viel musste er seiner Frau zugute halten - ihre Disziplin war tadellos. Es hatte zweifellos einiger Mühe bedürft, den kindlichen Geist der Rebellion zu brechen, der einst in ihnen gekeimt hatte, doch nun hielt der Graf sie für repräsentabel genug, um einen Anlauf in Richtung einer Heirat in die Wege zu leiten.

Die Töchter starrten brav auf ihre leeren Teller, die alsbald der rührige Butler ihren Blicken entzog. „Darf ich auf mein Zimmer?“ fragte da Celina, die Ältere, mit tonloser Stimme und in demütiger Haltung. „Geht nur“, entgegnete die Gräfin gnädig, „du auch, Agnes.“ Die Mädchen erhoben sich würdevoll und verließen den Raum. Erst auf der Treppe erlaubten sie der Kraft und Energie der Jugend, von ihnen Besitz zu ergreifen, und stoben in einer Art Wettrennen ins Obergeschoss. Der Butler kredenzte dem Grafen einen Wodka. Teilnahmslos nahm der Herr sein Glas, „tss“, machte seine Frau.

„Morgen fahre ich in die Hauptstadt“, verkündete er, „die Geschäfte.“ Die Gräfin erwiderte: „Celina ist bald siebzehn.“ Erfreut registrierte sie das Kopfnicken ihres Gemahls, der sogleich auf der Leiter ihrer Wertschätzung etliche Sprossen emporstieg: Hin und wieder hatte selbst ein Walross die richtigen Ideen. Es wurde weißgott höchste Zeit, sich um diesen Sachverhalt zu kümmern. Gleichwohl seufzte sie. „Ich werde mich mit dem Gärtner unterhalten müssen. Etwas gefällt mir nicht an dem Mann.“

Zur selben Zeit hielt dieser Gärtner sich im Pavillon auf. Vor Tagen hatte er hier etwas entdeckt, das die scheinheilige Fassade der sauberen Grafenfamilie in ein erstaunlich schummeriges Licht rückte. Als er die Limousine hörte, gab er das vereinbarte Leuchtsignal. Das Knirschen des Kieses beunruhigte ihn. Warum fuhr der Mann so schnell? Warum fuhr er überhaupt ganz bis hierher? Die Schnösel von Zeitungsreportern waren doch alle gleich! Es hätte ihm gut zu Gesicht gestanden, die letzten Meter zu Fuß zurück zu legen.

Als die Scheinwerfer des Wagens ihm zum ersten Mal direkt in die Augen leuchteten und sein Gesicht, wie er wusste, für jedermann zu sehen war, verließ der Detektiv abrupt sein Versteck zwischen den Büschen, die den Garten säumten. Eilig suchte er einen besseren Unterschlupf. Fündig wurde er, als es um ihn herum gewaltig platschte und er sich in knietiefem Wasser wiederfand. Umgeben von Schilf musste er kaum befürchten, entdeckt zu werden, wenngleich es ihn mit Traurigkeit erfüllte, seine kostbare Tweedhose samt seinen Beinen im Schlick versinken zu fühlen. Zumindest besaß nun die Pfeife, die er trotz der verräterischen Glut zu rauchen begonnen hatte, einen Zweck: Ihr beißender Rauch hielt ihm die entsetzlichen Mücken einigermaßen vom Leib, die ihn umschwirrten und die Luft mit unheilvollen Summen erfüllten.

Vorläufig widmete er seiner Aufmerksamkeit der Limousine, die vor dem Pavillon anhielt. Ein Mann entstieg ihr, ihm entgegen trat ein zweiter Mann, der aus dem Pavillon gekommen sein musste. Sie sprachen nur wenig und im Flüsterton, doch sie tauschten Umschläge aus. Das war höchst verdächtig! Der Detektiv wähnte sich einem Drogenkartell auf der Spur, einer Verschwörung weltpolitischen Ausmaßes oder doch jedenfalls einem handfesten Skandal. Man mochte ihn wegen einer gänzlich anderen Angelegenheit engagiert haben, doch wenn er nebenbei ein derartiges Verbrechen aufdecken konnte, würde das seinem Renommee erheblichen Auftrieb verleihen. Mit den großen Schritten seiner langen, nassen Beine suchte er zurück ans Ufer zu waten. Doch im nächsten Moment vernahm er Hufschläge. Es konnte nur einer sein, der durch die hereinbrechende Nacht galoppierte: Der illegitime Liebhaber Celinas.

Celina beeilte sich, die Kleider zu wechseln. Dann warf sie einen erneuten Blick in ihre Tasche. Längst war sie gepackt, doch sie konnte nicht umhin, noch einmal zu prüfen, ob wirklich alles, woran ihr etwas lag, darin enthalten war. Frohen Mutes entsann sie sich des Versprechens ihrer Schwester: Sie würden sich wiedersehen, bald schon - wo auf der Welt, das wussten sie noch nicht, nur dass es keinesfalls in ihrem Elternhaus sein würde. Es war ihr schwergefallen, ihre Pläne der sprunghaften Dreizehnjährigen zu offenbaren, doch zu ihrer großen Freude hatte sie von Agnes mehr als Verständnis erhalten. Dann sah sie auf die Uhr. Gleich, in wenigen Minuten, musste er kommen. Sie begab sich leisen Schrittes zur Waschküche, die am Ende des Nordflügels lag.

Unterdessen löschte Agnes das Licht, um besser in den Garten sehen zu können. Die Scheinwerfer der Limousine, die Leuchtzeichen aus dem Pavillon - alles lief nach Plan. Draußen auf dem Sund erkannte sie die Positionslichter eines Schoners. Spätestens übermorgen, wenn die Zeitungen über das berichteten, was sie heimlich dem Gärtner hatte zukommen lassen - spätestens übermorgen würde ein solcher Schoner, oder ein beliebiges anderes Schiff, Agnes mitnehmen auf seiner Fahrt, sie fortbringen vom Ort ihrer unglücklichen Kindheit. Es war nicht weniger, als der Graf verdiente: Als sie ihm ihre schulischen Erfolge in der Mathematik zeigte und stolzerfüllt berichtete, der Lehrer habe sie für ihr großes Talent gelobt, da hatte er sie nur hasserfüllt angesehen und erklärt, ein Mädchen habe eine gute Hausfrau und Mutter zu sein und sonst nichts, vor allem keine hochtrabende Mathematikerin. Seitdem interessierte sich Agnes für die Schiffe, die den Sund passierten, fragte sich, woher sie kämen und wohin sie führen, doch schließlich reduzierte sich diese Frage auf die simple Feststellung, dass sie einen beliebigen anderen Ort ansteuerten, wo es besser sein musste als an diesem.

Eines Tages, als sie in Vaters Schreibtisch einen Federhalter suchte, fand sie die Dokumente - die dreifache Buchführung des Grafen: Die offizielle für die Steuer. Die interne, mit der er die Frau Mutter bei Laune hielt. Und zuletzt die tatsächliche, die weder mit der Einen noch der Anderen etwas gemein hatte, die ein gewiefter Betrüger tunlichst beiseite geschafft hätte, es sei denn, es handelte sich um einen Pedanten wie den Grafen, der sich seiner Erfolge nicht erfreuen konnte, ohne sie in unmissverständlichen schwarzen Zahlen auf reinweißem Papier nachlesen zu können. Diese Dokumente hatte sie in den Pavillon geschmuggelt und dem Gärtner schöne Augen gemacht, auf dass er in der Hoffnung auf ein Stelldichein mit der Heranwachsenden sich dort aufhielte und umsah, und wie vorhergesehen hatte die Gier nach Geld die Oberhand gewonnen über die Gier nach zartem Fleisch.

Als Celina ihrem Liebsten in die Arme flog, der ihr alsbald auf den Rücken des Schimmels half, um sich sogleich zu ihr zu gesellen und dem Tier die Sporen zu geben, unternahm der Detektiv hastige Versuche, aus seinem nassen Versteck hervorzukommen und das Schlimmste zu verhindern. Allein, seine Beine steckten inzwischen bis zu den Oberschenkeln im Schlamm, und jeder Anlauf, sich zu befreien, zog ihn unweigerlich tiefer ins kühle Nass. Verzweifelt rang er um sein Leben. Die Liebenden galoppierten davon.

***

Ein Kommando rüttelt die Gäste aus ihren Gedanken. Der Schoner dreht in den Wind, sanft gleiten die Segel an Deck. Mit einem Ruck startet der Motor, bläst eine Wolke Dieselruß in die Dunkelheit, dann beruhigt er sich zu monotonem Tuckern. Minuten später ist das Schiff sicher vertäut. Haufen aus Sand und Kies säumen die Pier. Am gegenüberliegenden Ufer glitzert die Glasfassade des Universitätsgebäudes. Jenseits der Klappbrücke erhebt sich, von unzähligen Strahlern ins rechte Licht gesetzt, das königliche Schloss.

„Morgen seid ihr wieder zu Hause“, sagt der Kapitän. Morgen schon. Die Reisenden kehren zurück in ihren Alltag, in dem ein Tag dem anderen gleicht und zwischen Aufstehen und Schlafengehen kaum die Gelegenheit besteht, andere Realitäten herbeizuträumen. Der Kapitän jedoch wird nicht lange im Hafen bleiben. Er wird sein Schiff nach Norden führen, durch den Sund mit dem märchenhaften Herrenhaus, und wenn auf diesem Weg Unvorhersehbares geschieht, wird er es mit nichts als einem wohlwollenden Lächeln akzeptieren.
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