Seltsamer Attraktor

Ein Portrait der Familie Jaal, oder: Pubertätschaos kurz gefasst

Über Feedback freut sich: Nicolas Thon
 
Vollständiger Text:

Eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Die Familie Jaal - Vater Jaal, Mater Jaal, und die Tochter, Line Jaal.

Vater Jaal arbeitete als Lagerist. Bescheiden und zuverlässig versah er seinen Dienst, um sich nach Feierabend ganz seiner Familie zu widmen. Die Ehe war erfüllt von höchster Harmonie. Mater Jaal führte ihren Haushalt nach den gleichen Grundsätzen, wie ihr Mann sein gutsortiertes Lager. Es gab keinen Mangel und keinen Überfluss, kein zeitraubendes Suchen und Finden. Stets herrschte eine übersichtliche Ordnung, die ihnen ein freudvolles Leben ohne böse Überraschungen ermöglichte.

Die größte Freude bereitete ihnen Line. Ihre Statur war schlank und anmutig, ihr Denken geradlinig, ihr Handeln zielstrebig. Sie trödelte und träumte nicht. Ruhig und bescheiden erledigte sie, was man ihr auftrug. Mit Line gab es keinen Ärger und keine Probleme: Die stetige Entwicklung, die das Kind von Jahr zu Jahr nahm, war vorhersehbar wie ein gutgeführter Haushalt.

Dann wurde auch noch der kleine Idi geboren. In seinen ersten Lebensjahren war er oft krank und weinte viel. Doch auf dem Arm seiner Schwester beruhigte er sich sofort. Auch später wich er nicht von ihrer Seite, und sie spielte oft und ausgiebig mit ihm. Wenn sie ihm dann erklärte, nun sei es genug, denn sie müsse in Ruhe ihre Hausaufgaben erledigen, akzeptierte der Junge es ohne Murren. Line hatte wirklich den perfekten kleinen Bruder: Idi Jaal.

Line war in allen Fächern eine gute Schülerin, doch ihr Herz gehörte eindeutig der Mathematik. Vor allem die Geometrie war ihre Leidenschaft. Mit unermüdlichem Fleiß berechnete sie Vielecke und Körper von höchster Komplexität, und die nötigen Formeln beherrschte sie im Schlaf. Doch es war die Schnörkellosigkeit der Geraden, in der sie den Gipfel aller Schönheit erkannte. Parallelen, die einander nicht von der Seite wichen und sich dennoch nicht in die Quere kamen, und die dabei treu und voller Zuversicht an dem Versprechen festhielten, sich in der Unendlichkeit, im Jenseits, zu treffen - das schien ihr das perfekte Modell für eine gelungene Partnerschaft.

Ihr ausgeprägtes Interesse brachte es - man möchte denken: zwangsläufig - mit sich, dass ihre erste zaghafte Verliebtheit ihrem Mathematiklehrer galt. Zirkulus Präziosus war nicht nur ein hervorragender Pädagoge, dessen Überschwang selbst weniger begabten Schülern die Freuden des Rechnens vermittelte. Er sah auch ausgesprochen gut aus. Das empfand nicht nur Line so, aber es lag nahe, dass Zirkulus seinerseits gerade an ihr besonderen Gefallen fand.

Eines Freitags, als das Schrillen der Schulglocke das Unterrichtsende verkündete und die Kinder eilig ihre Taschen nahmen, um in wilder Hatz ins Wochenende zu stürmen, blieb Line einfach sitzen. "Nanu", sagte Zirkulus, während er bedächtig seine Sachen einpackte, "du kannst dich wohl gar nicht losreißen, wie?"

Line hatte keine weitere Absicht als die, noch ein wenig länger Herrn Präziosus' feine Gesichtszüge zu betrachten, ihm ungestört ihr bezauberndstes Lächeln zu schenken und sich des angenehmen Gefühls zu erfreuen, dass die Verlässlichkeit der Axiome über alle Unterschiede in Status und Alter hinweg zwischen ihnen eine unerschütterliche Verbindung schuf. Doch der Pädagoge missverstand ihr Bleiben, indem er annahm, sie fühle sich unausgefüllt von seinem altersgerechten Lernstoff, geradezu beunruhigt vom quälend langsamen Unterrichtstempo, und hoffe nun auf Lektionen, die ihr außergewöhnliches Talent herausforderten. Er hielt es für klug, wenn nicht gar für notwendig, seiner Lieblingsschülerin zu zeigen, dass die Mathematik bis zum Abitur und darüber hinaus noch manches aufregende Abenteuer für sie bereithielt. Und so hörte Line zum ersten Mal etwas von Relativitätstheorie, Chaosforschung und Fraktalen. Ihr geliebter Lehrer glaubte sie zu verwöhnen, als er ihr erklärte, die Länge eines Meters sei keineswegs konstant, sondern hänge vom Standort des Beobachters ab.

Als Line dann noch hörte, dass sich in einem gekrümmten Raum alle Geraden schneiden, es also Parallelen dort nicht gibt, brach für sie eine Welt zusammen. Überstürzt verließ sie das Klassenzimmer, und als sie zu Hause ankam, weinte sie bitterlich. Als sie im Spiegel ihren Körper betrachtete, stellte sie entsetzt fest, dass selbst er sie im Stich ließ, denn die widerlich fraktalen Formen ließen sich nicht ignorieren und bestätigten unmissverständlich, dass die unwillkommenen Offenbarungen ihres Lehrers der Wahrheit entsprachen.

Vater und Mater Jaal standen dem Kummer ihrer Tochter, den sie schweigend durchlitt, verständnislos gegenüber. Einzig Idi vertraute sie sich an, erleichtert darüber, dass der Kleine das verwirrende Gerede vom Chaos und der Grausamkeit der Gravitation staunend aufnahm, ohne es mit gutgemeinten Ratschlägen zu kontern. Und auch als er erfuhr, platonische Liebe sei unmöglich in dieser krummen Welt, sah er darin kein Problem.

Bald darauf hatte Line ihren ersten Freund. Peter nannten alle nur Pudding, weil er selten etwas Anderes aß und ein dementsprechendes Pummelchen war. Pudding angelte mit großer Hingabe, und das kam Line gelegen, denn so konnte sie ihren Freund zum Seeufer begleiten, und während er dann stoisch fischte, streifte sie durch die Umgebung, pflückte Blumen und studierte die Geometrie ihrer komplexen Blüten, oder sie las in einem ihrer Bücher über Physik, Chemie und höhere Algebra. Pudding und Line gingen miteinander wie perfekte Parallelen im euklidischen Raum. Das gab Line einen Teil ihrer Zuversicht und Selbtsicherheit zurück, und die Streifzüge zum Angelteich verliehen ihr einen gesunden Teint. Ihre Eltern registrierten wohlwollend den guten Einfluss des Jungen.

Dann jedoch berührte Pudding ihre Hand. Und schlimmer: Während ihre Haut noch glühte und Line verzweifelt gegen die Krise kämpfte, sprach er vom Händchenhalten und vom Küssen, und seine Worte wirkten genauso verstörend wie das widerliche Zeug von Relativität und Chaos. Line war tief verletzt. Ihre Enttäuschung, ihr Entsetzen kannten keine Grenzen, strebten der Unendlichkeit entgegen, wo alles möglich war, wo sich sogar Parallelen schnitten. Auch sie berührte jetzt ihren Freund, dieses einzige Mal, indem sie ihm eine knallte, so heftig, dass er zu Boden ging und den Eimer voll Fischen mit sich riss.

Nun also war sie am Ende. In der Unendlichkeit, wo Parallelen sich schnitten. Line wollte nichts Anderes sein als eine Parallele - sie erkannte, was sie zu tun hatte. Für ihre Skizzen und Rechnungen benutzte sie diesmal nicht Bleistift und Papier. Sie nahm ein Messer und ihren Unterarm.

Line war immer noch sehr geschwächt von dem Blutverlust. Den Besuch ihrer Eltern hatte sie verschlafen, bemerkte nicht, dass sie sich draußen voller Sorge mit dem Arzt unterhielten, der ihnen eine gute Psychologin empfahl. Als sie erwachte, saß Zirkulus Präsziosus an ihrem Bett. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie schickte ihn fort. Er hatte das kommen sehen und respektierte ihren Wunsch - doch er hinterließ ein Buch. Es handelte von der Chaosforschung. Auf die erste Seite hatte er den Hinweis geschrieben: "Ich hab das damals wohl etwas vermasselt. Vielleicht kann ich es hiermit wieder gutmachen." Es war ein tolles Buch: Gleich zu Beginn überwand es ihre Skepsis, indem es erklärte, dass man ein dynamisches System sehr wohl berechnen und damit ordnen, bändigen, zähmen konnte. Und es war so verfasst, dass Line auf Anhieb fast alles verstand. Sie verschlang es geradezu.

Bald ging es ihr viel besser, sie war kräftig genug zum Aufstehen und durfte bald nach Hause. Ihr Lehrer besuchte sie erneut, und diesmal freute sie sich maßlos, ihn zu sehen. Er sagte: "Du bist ein seltsamer Attraktor, Line Jaal." Eine schlechte Nachricht konnte er ihr nicht ersparen: "Es gibt aber auch Dinge, die man nicht berechnen kann. Gefühle zum Beispiel. Man muss sie erleben, auch wenn's manchmal wehtut." Als sie die Klinik verließ, fühlte sie sich besser gewappnet für die Unberechenbarkeiten des Lebens. Voll Appetit stürzte sie sich darauf. Pudding war nämlich auch ein seltsamer Attraktor.


*Seltsamer Attraktor ist ein mathematischer Fachbegriff (den ich auch zunächst googeln musste). Es macht nichts, wenn das zu abstrakt erscheint, denn das ist ja gerade der Clou: Die Zweitbedeutung, die den Autor so sehr fasziniert, erschließt sich unmittelbar.*


 
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