Paulas Törnberichte | ||||||
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Die Flaute und das Andere. Mit Grenaaer Woche:
Sommerreise 2019, Teil 3
Anholt: Wir stehen auf dem Steg, genießen das
prächtige Sommerwetter und diskutieren die Erlebnisse der
zurückliegenden Tage. Wolfgang sagt: "Ich hab beschlossen: Ich
segel nur noch bei Flaute. Nich mehr bei dem Anderen." Bevor wir
überhaupt wieder segeln, gilt es ein paar Probleme zu
lösen.
Und zumindest einen Tag lang die wunderschöne Insel zu
genießen. Aber wieso sind wir überhaupt hier? Und
was
bedeutet jenes ominöse "Andere"?
Juni/Juli 2019
Wenn
ich meine im Herbst ausgedachte grobe Törnplanung noch richtig
erinnere, sollte die erste Woche der Reise auf Anholt enden, die zweite
in Kopenhagen, und jetzt, mit dieser neuen Gruppe, sollte es
über Bornholm nach Svendborg gehen. Von vornherein war klar:
Das geht nur bei günstigen Windverhältnissen.
Immerhin, Kopenhagen haben wir geschafft. Statt Anholt war es Aarhus.
Und während wir den Tag inmitten der Großstadt
genießen und die Einweisungsrunde von der Kleinen
Meerjungfrau zum Klärwerk führt, ist das
große Ziel Bornholm bereits in unrealistische Ferne
gerückt: Drei Tage schwachwindig, dann ein bisschen Ost,
danach eine Westlage - das ist das Gegenteil der günstigen
Bedingungen, die wir gebraucht hätten. Ohne den Abstecher nach
Bornholm würde uns der Weg durchs Smålands
Fahrwasser allzu direkt ans Ziel führen - es gilt ja, die zwei
Wochen irgendwie zu füllen. Und dass die Sommertour dieses
Jahr schon im Juni stattfindet, hat ja den wesentlichen Grund, dann
noch Anholt anlaufen zu können, ohne in einem heillos
überfüllten Hafen um Liegeplätze und ein
bisschen Ruhe kämpfen zu müssen. Was machen wir also?
Eine Runde durchs Kattegat.
Wir
verlassen Kopenhagen am frühen Sonntagmorgen, bevor die
Ausflugsboote herumzusausen beginnen. Bei schwachem Nordwind genehmigen
wir uns einen kurzen Abstecher südwärts. Für
die neun Meilen bis Dragør brauchen wir vier Stunden, die
meiste Zeit segeln wir nicht wirklich, sondern treiben in der
hilfreichen Strömung, aber der entspannte Auftakt ist durchaus
kurzweilig, denn zwischen Tiefwasserweg und Flughafen gibt es jede
Menge zu gucken. Spannender noch ist das Anlegen: Mit Grundleinen bei
auflandigem Wind. Wir treiben vor Topp und Takel auf die zum
Glück noch recht leere Pier zu, im letzten Moment bringe ich
Paula längsseits, und als eine Vorleine fest ist, ziehe ich
ihr Heck mit der Grundleine gerade. Diese Dinger scheinen an der Adria
Standard zu sein, ich kenne sie aus Schweden. Für die
Charterer sind sie neu - zum Glück können wir uns
damit behelfen, aneinander zuerst längsseits zu gehen.
Am
Montag werden es zwanzig Meilen nach Norden bei wiederum schwachem Wind
und mitlaufender Strömung. Die größte
Aufregung ist beinahe, dass wir bei den Windmühlen vor
Kopenhagen kurzzeitig durch das Gekabbel in den Neerstrom geraten. Beim
Anlegen in Kyrbacken auf der schönen Insel Ven kommt endlich
richtig Wind auf. Hätten wir nicht mehr gebraucht.
Paula
und ich gönnen uns mal wieder ein Bonbon: Anlegen vor
Heckanker bei Seitenwind und ohne Motor. Ich kriege das Groß
ein
bisschen spät runter, das ist aber hilfreich, weil der Speed
den zunächst slippenden Anker superfest einruckt, dann nehme
ich mit der Ankerleine Fahrt raus, und der freundliche junge Mann auf
der Pier, dem ich
eher aus Höflichkeit denn Notwendigkeit eine Vorleine in die
Hand drücke, ist angemessen beeindruckt: "Geiles
Manöver!" Ich finde aber wieder einmal, unter Motor
wäre es kein bisschen einfacher gewesen. Nur weniger
eindrucksvoll.
Nun
aber mal konzentriert an die Törnplanung.
Angekündigt ist für Mittwoch ein schwacher
Südost, der mittags zulegt und bis Donnerstag früh
hält. Hinter einer Kaltfront dann ein frischer Nordwest, der
uns mit Sicherheit nicht vom Sund nach Anholt bringt. Ich finde, jetzt
sei die Zeit: Es ist lange hell, unter einem wolkenlosen Himmel wird es
nie vollständig dunkel. Der naheliegende Plan lautet, morgens
nach Gilleleje zu segeln, dort ein bisschen auszuruhen und dann
über Nacht Anholt zu erreichen. Alle sind zunächst
begeistert von diesem Abenteuer. Doch dann kommen einer Crew Bedenken,
begründet in einer medizinischen Vorgeschichte. Also keine
Nachtfahrt. Statt dessen: Mittwoch die
fünfunddreißig Meilen nach Torekov, dann weiter nach
Falkenberg. Das liegt etwas nördlicher als Anholt, wir sollten
also von dort aus mit dem Nordwest etwas anfangen können. Dann
mal los.
Die
Nachtfahrt hätte sich dann sowieso erledigt, denn es
beginnt unglaublich zäh. Bis Helsingborg hangeln wir uns von
Windfeld zu Windfeld, kämpfen darum, in der stärksten
Strömung zu verbleiben, ohne uns allzu offensiv im
Verkehrstrennungsgebiet breit zu machen. Es dauert Stunden und Stunden
und Stunden, und schließlich gebe ich schon auf und will uns
nach Mölle lotsen, aber dann bekommen wir - zum ersten Mal
seit dem Crewwechsel - richtigen Wind. Mit fünfeinhalb Knoten
rauschen wir dem Kullen entgegen, hinter dem Berg geben uns
Fallböen und was weiß ich was noch für
Effekte richtig Speed, und kurz vor sieben weist uns die sympathische
Hafenmeisterin perfekte Plätze zu: Direkt vor der
Erlebnisgastronomie.
***
Paula
und ich unternehmen ein Stück weit eine Reise in die
gemeinsame Vergangenheit. In Kopenhagen, Dragør und Ven
waren wir vor zehn Jahren, in Torekov vor acht. Es ist schön
zu merken, wieviel besser wir seitdem geworden sind. Oder vor allem
ich. Es ist interessant zu sehen, wie die Orte sich verändert
haben, ohne sich untreu zu werden. Und es ist großartig, sie
diesmal nicht als verschrobener, latent überforderter
Einhandsegler zu besuchen, sondern mit einer wundervollen Gruppe. Die
ist jetzt homogener: Drei Ehepaare mit vergleichbarer Segelerfahrung,
die Crews finden sofort einen Draht zueinander, inzwischen ist es
unvorstellbar, dass die sich wirklich erst seit vier Tagen kennen. Der
Zusammenhalt ist klasse. Nachfolgend werden sie ihre
unerschütterliche Tapferkeit unter Beweis stellen. Doch
zunächst steht ein segeltaktisches Meisterstück auf
dem Programm.
Wir sollen also nach Falkenberg, neunundzwanzig Meilen, Kurs
Nordnordwest. Die Windprognose hat sich inzwischen konkretisiert, wobei
der Däne (DMI) und der Norweger (YR) sich markant
unterscheiden: Beim Dänen schläft der Südost
komplett ein, bevor abrupt der Nordwest einsetzt. Beim Norweger dreht
die Brise kontinuierlich recht. Beide sind sich einig, dass es ab
fünfzehn Uhr mit Windstärke sechs pustet. Ich
verordne uns einen Kurs von 320 Grad, der uns rechtzeitig zur
Winddrehung so weit nach Westen bringen soll, dass wir genau
südlich von Falkenberg landen und bei dem Nordwest ohne
Kreuzen ans Ziel kommen. Die außerordentliche Punktlandung
liest sich im Logbuch so:
0800 Leinen los, Segel hoch. SE3, ein Viertel Ci,Cc. Kurs 325°
3 ½ kn
0825 NElich Hallands Väderö. 4,9 kn. Drei Viertel Cc,
As
0855 Über der Küste donnert es, zum Glück
hinter uns
0910 S2, erhebliche Versetzung durch den N-gehenden
Küstenstrom. Der Fockausbaumer kann weg bei halbem Wind.
Voraus mehr Gekräusel, die Karten werden neu gemischt. Und wir
wären wohl besser früher ausgelaufen.
0920 Das Gekräusel war die Stromkante. Wir fallen ab ohne
Kursänderung über Grund. Nun wieder mit Ausbaumer.
2,5 kn, Sonne kommt wieder raus
1030 56°32,5'N 12°30'E, Kurs 325°, 3,3 kn, eine
Stunde noch so weiter, wenn die Bedingungen bleiben.
1045 drei Viertel Cu, Sc. Brise dreht südwestlicher. Boris
baumt Marthas Fock aus, ich nehme den Ausbaumer gerade wieder weg. Wind
schwächelt, dreht weiter recht.
1115 W3 4 kn - es tut sich etwas. Frieda verschläft mit
offener Großschot die Winddrehung. Vor uns nur noch Martha.
1145 56°36'N 12°26,5'E. Wir sind der Winddrehhung
folgend und hoch am Wind segelnd auf 340° eingeschwenkt. Jetzt
fallen wir ab auf N-Kurs. WNW3 4,5 kn. Bisher trocken geblieben. Und
sehr zufrieden mit dem Timing.
1225 Inzwischen sind die Schoten komplett dicht. 5 kn
1245 Der Wind nimmt eine Pause. Während Paula sich mit 4,2 kn
bemüht, Martha einzuholen, sprintet Oli unaufhaltsam
näher. 56°41'N
1310 56°43'N, es geht doch: 5 ½ kn und wieder ein
Schrick auf den Schoten. Oli jetzt querab. WNW4
1410 WNW5, 5,8 kn, Ansteuerungstonne Falkenberg in Sicht. Alle vier
Boote sind in 2 Minuten Abstand zusammen - toll!
1500 Aufatmen im Schutz der Molen bei NW6. Sonne, klarer Himmel.
1515 Segel runter, Falkenberg Bootsclub fest. Ich will jetzt was
übers Timing hören.
Das Timing kann natürlich immer nur so gut sein wie die
Windvorhersage. Was die nicht drinhatte, ist die stramme Sieben des
Nachmittags und Abends. Da haben wir richtig Glück gehabt.
Donnerstag
früh ist klar, dass da draußen eine
tüchtige See steht. DWD spricht von einem Meter, realistischer
wirken eineinhalb. Alle sind ein bisschen angespannt angesichts der
fünfunddreißig Meilen offensten Wassers. Ich
wälze die Wetterberichte. Sie sind sich einig: Nordwest um
vier. Was im Hafen ankommt, fühlt sich erheblich angenehmer an
als das wilde Gepuste des Vortags. Mich irritiert ein wenig die
Richtung, das ist ein reiner West, aber ich nehme an, er fällt
durch die Industriebebauung so ein. Um acht Uhr legt Paula als letztes
Boot ab,
Flaute
hatten wir genug. Jetzt also kommt das "Andere". Die
Windrichtung ist kacke, die Dünung gewaltig (eher zwei Meter
als nur anderthalb) und kommt noch ein bisschen vorlicher als der
ungünstige Wind. Doch die Wellen sind für
Kattegat-Verhältnisse erstaunlich lang, und in meinem
grenzenlosen Optimismus vertraue ich darauf, dass sich die Bedingungen
bald zu dem hinruckeln werden, was zu erwarten war. Ich experimentiere
eine Weile damit herum, den Sollkurs von 255° zumindest
annähernd zu halten. Geht nicht - Paula klettert mit unter
drei Knoten die Wellen hinauf und fällt hin und wieder recht
unsanft über die Kante. Wir fallen ab wie die Anderen.
235° ist vorläufig das Beste, das wir mit
erträglichem Speed laufen können.
Wir
wollen sagen: Es ist ruppig. Überall ist Wasser, ich
fühle mich wie auf einem Schärenkreuzer. Es ist kalt,
also wechsele ich auf lange Hosen und zusätzlichen
Wollpullover. Nebenbei Ruder gehend, ist Ölzeug aus, Klamotten
an, Ölzeug wieder an ein halbstündiger Kampf.
Außerdem verspricht es ein ziemlicher Nichtrauchertag zu
werden, zum Glück habe ich so viel zu tun, dass zumindest die
aus Langeweile gerauchten Kippen heute nicht nötig sind. Aber
immer, wenn ich mich der Illusion hingebe, es sei momentan etwas
ruhiger, versuche ich eine zu drehen. Also zuerst die
Spülhände-Finger soweit trocknen, dass ich das Papier
nicht sofort aufweicht. Tabak rein und vorsichtig rollen, ohne dass die
halbe Packung wegweht. Und dann - klatsch! - kommt die nächste
Dusche von vorn, und das fast vollendete Produkt ist
hinfällig.
Trotzdem genießen wir den Tag. Es ist atemberaubend und
phantastisch, wie Paula und ich das hier im Griff haben. Oli posiert
für spektakuläre Aufnahmen. Ich packe die Kamera dann
aber doch wieder trocken weg und denke mitfühlend an die
Charterer. Fraglos haben wir keinen Spielraum für jegliche
Form von Problembewältigung.
Als
ich die ersten Frachter sehe, male ich unsere Position in die
Karte. Große Erleichterung: Wir sind viel weniger
südlich, als ich befürchtete. Wir wenden,
müssen in diesem Chaos die Fahrwassermittentonne Anholt Knob
finden, denn dort wollen wir den Tiefwasserweg queren. Sofort
fährt es sich angenehmer, weil die Welle weiterhin nicht aus
der Windrichtung läuft und jetzt deutlich achterlicher
einfällt. Vereinbart haben wir, anschließend
nördlich an Anholt entlang zu segeln, um die Kreuz auf den
letzten Metern zu vermeiden, die der südliche Weg mit sich
brächte. Bei Nordwest durchaus sinnvoll - aber es ist nach wie
vor kein Nordwest, und da wirkt der südliche Weg - in
absehbarer Zeit dicht unter Land ohne diese teuflische Welle -
wesentlich verlockender.
Hm. Oli ist relativ dicht bei. Frieda auch gut zu sehen. Martha ist ein
bisschen zurück, nur noch als weißer Fleck zu
erkennen, aber zumindest in Friedas Sichtweite. Ich versuche Martha per
Funk zu erreichen. Klappt nicht. Also setze ich darauf, dass die
Anderen sich an Paula orientieren und uns folgen. Die erste Wende sind
sie jedenfalls schon genau hinter uns gefahren.
Die Sonne kommt raus, die ersehnte Tonne in Sicht. Und im fast gleichen
Moment auch die Untiefentonne weiter westlich, der Leuchtturm und die
Hügel von Anholt. Ich stelle mir die Erleichterung der
Chartercrews vor - nach fünf Stunden grauen, schaumigen,
steilen Wassers ringsum gibt es endlich eine visuelle Orientierung, und
mit ihr die Hoffnung, dass diese verflixte Insel tatsächlich
existiert.
Auf
die Erleichterung folgt das Chaos: Welle ohne Ende.
Strömung, die wir nicht brauchen können. Enorm viele
Frachter, drei von Norden, einer von Süden, dann taucht schon
der nächste über die Kimm auf. Hier muss jetzt jeder
seinen eigenen Weg hindurch pflügen. Daran scheitert das
Vorhaben, die Anderen auf den südlichen Weg zu
führen, nur Oli folgt uns. Als wir Landabdeckung haben, kommt
endlich, mit vielstündiger Verspätung, der Nordwest,
und Paula rennt mit gut sechs Knoten los. Als wir knapp zwei Stunden
später gut gelaunt die Südwestecke Anholts umrunden
und zum Hafen kreuzen, hat sich der Seegang auch hier deutlich
beruhigt.
Wir legen an. Souverän, kontrolliert, ruhig und gelassen, wie
man es nur kann, wenn man elf Jahre heimlich geübt hat. Oli
liegt in der Pakhus Bucht vor Anker. Martha taucht erstaunlich schnell
auf, auch Frieda lässt nicht lange auf sich warten - beide
sind den nördlichen Weg gefahren. Sie bringen Probleme mit,
und damit meine ich nicht die gelegentlichen Attacken von Seekrankheit
- die sind jetzt vergessen. Friedas Groß geht schwer runter,
das Kopfbrett hängt aus der Göhl. Ich bin kurz vorm
Durchdrehen, fürchte eine kaputte Göhl, und das
ausgerechnet in einem Hafen ohne Masten- oder sonstigen Kran,
dreißig Meilen von der nächsten solchen
Möglichkeit entfernt. Es stellt sich zu meiner Erleichterung
heraus, dass sich nur das Fall gelöst hat. Ausgerechnet heute
war wohl der Schäkel nicht richtig geschlossen.
Und Martha? Sie hat seit einer Woche keinen Landstrom bekommen, die
Batterie ist leer, die Lenzpumpe blieb einfach stehen - bei konstanten
Gischtfontänen ein ungünstiges Szenario. Die Bilge
ist voll, und Katrin berichtet von hundert Schlägen an der
Handpumpe alle zehn Minuten. Ich stelle fest, dass die 12V-Pumpe
zusätzlich mit Dreck verstopft ist. Als der entfernt ist und
Landstrom liegt, läuft sie wieder einwandfrei. Und hat
ausgiebig zu tun mit all dem Wasser, dass zwischen den
Vorräten und durch die Nüstergatten
nachströmt. Denke ich.
Oli
kommt dann nach erholsamer Pause doch noch in den Hafen. Das
selbstbewussteste aller selbstbewussten Boote hat von der gecancelten
Nachtfahrt gehört und sich ihr Teil gedacht -
standesgemäß segelt sie genau bei Sonnenuntergang
unter Vollzeug in den Vorhafen. Wenn ich für jedes Foto, dass
von ihr dabei gemacht wurde, zehn Euro bekäme, könnte
ich einige Charterwochen verschenken... Gerne hätte ich selbst
eins geknipst, aber ich habe zu tun: Aus Erfahrung klug geworden,
springe ich am Stegkopf auf und fahre den Anleger selbst. Die
überdrehten Charterer tauchen ihre Geschichten aus. Es war
unter Anderem ein grandioses, unvergessliches Erlebnis. Ich beteuere
vor allem dies: Wenn ich gewusst hätte, dass wir gegenan
haben, wären wir nicht losgefahren. Und dann bringt Wolfgang
diesen Spruch, für den ich ihn knuddeln könnte: "Ich
hab beschlossen: Ich segel jetz nur noch bei Flaute. Nich mehr bei dem
Anderen."
Die
Euphorie ist kurzlebig. Ich verbringe eine schlaflose Nacht.
Nebenan läuft Marthas Pumpe jede Minute. Jede Minute! Einmal
pro Minute!!!!! Und es wird nicht weniger, es hört nicht auf.
Die treue Seele hat ein echtes Problem. Ein enormes Problem. Und noch
dazu eines, das sich auf Anholt nicht lösen lässt.
Die Crew spricht beim Frühstück recht leise.
Äußert sich zurückhaltend. "Martha hat ein
kleines Problem."
"Ich
weiß", sage ich. Die mitgebrachten Brötchen
stapeln sich im Schapp, ich kriege vorerst keinen Bissen herunter. Jan
Willem Paulsen und seine Frau liegen gegenüber mit der "Siena
von Arnis". Der Mann ist Bootsbaumeister und Werftbetreiber, hat selbst
Folkeboote gebaut - sein Zuspruch ist hilfreich. Ich
beschließe, ein Problem zur Zeit anzugehen. Die
Gäste erstmal in Ruhe frühstücken zu lassen
und später auf Landgang zu schicken. Zwischendurch bergen wir
Friedas ausgerauschtes Fall. Es wird ein All-Hands-Manöver
allererster Güte. Um mich von der leckenden Martha abzulenken,
habe ich mir die halbe Nacht den Kopf darüber zerbrochen und,
während um mich herum gefrühstückt wurde,
erste Vorbereitungen getroffen. Alle quatschen etwas von
Bootsmannsstuhl, aber woran bis ins Topp hochziehen ohne Fall - mein
Mittel der Wahl ist der neue Bojenhaken, den ich extra im Hinblick auf
Anholt gekauft, aber dann doch nicht für die Heckboje benutzt
habe.
An seiner Spitze hängt eine große Schlaufe aus
dickem Takelgarn. Mittig geführt wird er an Friedas
Achterstag. Gezogen wird er von Olieses Großfall. Es ist ein
Lernprozess. Wir probieren herum, bis die Boote passend zueinander
liegen, Fall und Führung richtig sitzen und an beiden Enden
Führungsleinen angebracht sind. Nochmal und nochmal holen wir
den Bojenhaken auf und fieren ihn wieder ab. Dann, kaum traue ich
meinen Augen, sieht es so aus, als hinge der offene Schäkel
des ausgerauschten Falls in der Schlaufe. "Zieh zu das Ding, los, zieh
zu!", rufe ich Volker zu.
Und wahrhaftig: Die Schlinge schließt sich, der Bojenhaken
wandert das Achterstag entlang abwärts, und er bringt Friedas
Großfall mit. Für mich fühlt es sich an,
als hätte ich das Tor des Monats geschossen. Nur mit Paula die
Svendborg Classic Regatta zu gewinnen, könnte toller sein!
Aber das wird wohl nie passieren. Dieses hier ist echt.
Während die Gäste die Insel erkunden, widme ich mich
Marthachen. Die Leckage ist schnell eindeutig lokalisiert und
analysiert: Im Bereich der Lasche zwischen Kiel und Vorsteven sind die
Schrauben, die die Planken in der Sponung halten, abgeschoren. Kann
nach gut fünfzig Jahren und bei zwei Meter Seegang durchaus
passieren, wenn die alten Bronzeschrauben vorher schon
geschwächt waren.
Wir
- also Martha und ich - beschließen: Unser
nächstes Ziel heißt Grenaa, dort gibt es einen Kran,
der sie zum Nachverschrauben an Land stellt. Um trotzdem jetzt schon
etwas zu tun, kaufe ich im Laden einen Feudel aus Baumwolle.
Drücke vorsichtig einzelne Fäden von innen in die
Sponung. Sofort kommt weniger Wasser. Ich nehme mehr Baumwolle und
drücke doller. Und bin nicht überrascht, als es
wieder schlimmer wird: Im Wesentlichen drücke ich die Planke
weiter aus der Sponung, und das Gesprudel wandert dabei im Tempo meiner
Arbeit nach achtern. Zuletzt finde ich einen Kompromiss, der die Menge
eindringenden Wassers auf ein Drittel reduziert. Dann gehe auch ich auf
Landgang, und es gelingt mir tatsächlich, die
Schönheit der Insel zu genießen. Ich stelle fest:
Anholt ist einzigartig. Sämtliche Landschaftselemente gibt es
auch andernorts, aber in dieser beinahe grotesken Kombination
zweifellos nur hier. Wer mit diesen Andeutungen nichts anfangen kann,
muss dringend eine Reise unternehmen: Anholt zu erleben,
gehört zu einem erfüllten Leben notwendig dazu!
Samstagvormittag. Briefing im windgeschützten Clubraum.
Draußen weht es mit fünf aus West, die See ist ein
Meter - keine Bedingungen für ein krankes Marthachen. Die
Stimmung ist äußerlich gelassen, doch wir sind alle
überdurchschnittlich nervös und angespannt. Ist ja
klar - das letzte Mal Segeln war ruppig, und nun haben wir einen
hochgradigen Havaristen dabei. Wir warten ab - Wind und Seegang sollen
nachlassen. Am frühen Nachmittag laufen wir endlich aus.
Paula und ich warten noch, bis Martha das gröbste Gehoppel
in der Grundsee hinter sich hat. Die Botschaft lautet: 12V-Pumpe
läuft dauerhaft, aber sie hält den Pegel. Dann mal
nix wie hinterher. Auf dem südlichen Molenkopf bekommen wir
Beifall - wir sind das vierte Folkeboot, das aus dem Hafen kreuzt,
anstatt wie die Anderen unsanft in die volle Dünung zu
motoren. Mit Außenborder würde das gar nicht gehen,
und wenn es dann noch Pluspunkte für die seemännische
Eleganz gibt, nehmen wir die gerne.
Nun haben wir ja gedacht, zu viel Wind sei unser Problem, aber nach
wenigen Meilen stellt es sich ganz anders dar. Nach
übereinstimmender Meinung von vier Wetterberichten segeln wir
in voller Schräglage bei West vier bis fünf auf
direktem Kurs nach Grenaa. Auf dem Wasser können wir
zunächst den Kurs nicht halten, dann haben wir die Wahl, bei
Flaute in
der Strömung nach Südosten zu vertreiben, oder zu
wenden und einigermaßen die Position zu halten. Der
Außenborder bringt Paula und Martha in den Norden des
Windparks, wo die Mühlen konstanter drehen. Von hier aus
segeln wir mit einem halbwegs stetigen Westwind der Abendsonne
entgegen.
Tapferer Martha gelingt es sogar noch, Paula zu überholen,
bevor vier Meilen vorm Ziel der Wind erneut einschläft. Ich
zögere keine Minute, sondern starte den Motor. Kurz nach zehn
sind wir als Erste fest. Für Boris und Katrin gibt es das
obligatorische Anlegebier erst später - zunächst
spendieren Paula und ich ein Glas unseres letzten Portweins, unserer
internen Tapferkeitsmedaille. Es sagt wohl Einiges aus, dass die beiden
mir am nächsten Abend eine neue Flasche überreichen.
Dazwischen
verbringt Martha bei trockenem, heißem
Südwind zwei Stunden an Land. Ich bin optimistisch, dass die
Dutzenden von Schrauben das Problem beheben. Oder sagen wir: Mit mehr
Schrauben wird es nicht mehr besser. Der reizende,
großartige, tolle, wundervolle Hafenmeister setzt das Boot
zurück ins Wasser. Alle Gäste helfen mit. Ergebnis:
Martha macht Wasser. Aber nur ein bisschen. Nach kurzer Zeit wird es
weniger. Und nach ein bisschen Nachhelfen mit Fäden aus dem
Putzlappen ist sie vollkommen dicht. Jetzt endlich mache ich mich
über die Portion Fish'n'Chips her, die Katrin organisiert hat.
Während Martha noch an der Kranpier aufs Verholen zu ihren
Schwestern wartet, dreht der Wind - zack! - auf West und brist
fürchterlich auf. Fast ebenso schlagartig fällt die
Temperatur auf fröstelige fünfzehn Grad. Damit
beginnt unsere Grenåer Woche. Fortan pustet es mit sechs bis
sieben, begleitet von rup-pigs-ten Böen und gelegentlichen
Schauern. An Segeln ist vorerst überhaupt nicht zu denken. Ich
mache mir Gedanken über den nächsten Crewwechsel:
Freitag sollen wir in Svendborg sein...
Um die Gäste muss ich mir keine Sorgen machen, sie
genießen den Urlaub. Hatte ich nicht zum Motto dieser Reise
gemacht, durchaus mal einem Ort länger zu verweilen, um ihn
richtig kennenzulernen? Dazu ist nun Gelegenheit - und ich muss
gestehen, Grenaa wäre vorher nicht meine erste Wahl
für so einen Aufenthalt gewesen, aber es gibt
überhaupt nichts zu meckern. Montag fährt die Gruppe
mit der Bahn nach Aarhus - und kehrt begeistert zurück. In den
folgenden Tagen stehen neben Koje und Lesen und
Füßehochlegen die Fische im Kattegat Center auf dem
Programm, außerdam der Ort Grenaa mit dem Djursland Museum,
der Wald im Süden der Stadt, die Abwrackwerft und
außerdem diverse Grillabende im Hafen.
Trotzdem gibt es da ja die unheilvolle Allianz aus: mal wieder Segeln
wollen. Und aus meinen logistischen Erwägungen heraus:
Unbedingt segeln müssen! Während Paula in den
Böen rollt, studiere ich jedes Update des Wetterberichts und
zerbreche mir den Kopf. Eine Änderung der Wetterlage noch zu
unseren Lebzeiten hat zunächst kein Wetterdienst im Programm,
aber es ergibt sich ein Muster: Nachts nimmt der Wind ein bisschen ab,
die Böen kommen zum Erliegen. Ich werfe den Vorschlag in die
Runde, Mittwoch um drei Uhr morgens auszulaufen und die
dreißig Meilen nach Langør zurückzulegen,
bevor die Böen wieder loslegen. Alle stehen dieser Idee
aufgeschlossen gegenüber. Außer mir.
Dienstags beim Grillen, es wurde extra auf halb sechs vorverlegt, um
für ein paar Stunden Schlaf zu sorgen, muss eine Entscheidung
fallen. DMI hat die günstigste Prognose für die Nacht
und den Morgen, aber selbst hier genügt ein kritischer statt
eines heillos optimistischen, um zu erkennen: Die Wahrscheinlichkeit,
Samsø zu erreichen, ohne total durchgewalkt zu werden, ist
beinahe null. Um sieben Uhr kachelt es voraussichtlich schon wieder mit
gewohnter Vehemenz. Erschwerend hinzu kommt, dass mir Langør
für den anstehenden Crewwechsel wenig nützt. Um ihn
logistisch überhaupt bewältigen und allen
Gästen zumuten zu können, müssen wir
zumindest Fyn erreichen. Ansonsten bleiben wir besser in Grenaa. "Ich
glaube, wir lassen das", murmele ich. Und dann, in meiner
Hilflosigkeit, sage ich: "Paula, sag du."
Und
Paula sagt. Das heißt, sie gibt mir eine Inspiration. Ich
gucke mir den Freitag an: Neue Wetterlage, Sonne nach
nächtlichem Regen. Westnordwest vier, ein halber Meter Welle,
mitlaufend Strom auf der gesamten Strecke. Das ist es! Das ist die
Lösung! Irgendwie werde ich verkaufen müssen, dass
wir satte sechzig Meilen am Stück segeln werden, aber das ist
allemal besser, als gar nicht mehr zu segeln. Am Grillplatz halte ich
mich zurück. Schließe mich den laufenden
Gesprächen an, es geht um Kurzreferate zu den Museumsbesuchen,
um Kindheitserlebnisse und solche aus dem Elterndasein. Doch ganz
subtil bringen die Gäste das Thema Wetter und Segeln aufs
Tablett.
Ich wähle die Kurzfassung: "Freitag. Kerteminde. Das
letzte
Boot legt um sechs Uhr ab. Hat Paula gesagt." Im Laufe des Mittwoch und
Donnerstag sind bereits alle der Meinung: Eine gute Entscheidung.
Dennoch sehen sich die Gäste einem Kraftakt
gegenüber. Sie kalkulieren mit vier Knoten, hoffen auf Ankunft
gegen einundzwanzig Uhr. "Unter vier Knoten machen wir aber den Motor
an", unkt Volker. Björn schickt mir eine SMS mit dem Stichwort
"schwach umlaufend", die ich erst kurz vor der Ankunft in Kerteminde
beantworte. Freitag kurz nach vier sind alle voller Tatendrang. Ich
mache erstmal Rührei, dann erledige ich den Abwasch. Punkt
sechs legt Paula als letztes Boot ab.
Der
Wind ist mal vier und mal drei und mal wieder vier und zeitweise
auch eher zwei Beaufort. Immer aus passender Richtung. Der Tag beginnt
saukalt, warm wird es erst, als auf unserem Südkurs die Sonne
um das Großsegel gewandert ist, also am frühen
Nachmittag. Aber die ständig mitlaufende Strömung
bewirkt, dass wir selten unter sechs Knoten geraten. Zeitweise - und
für längere Phasen - sind es fast acht. So legen wir
noch am Vormittag die erste Hälfte der eigentlich so weiten
Strecke zurück. Die Strecke wird dadurch nicht gerade zum
Katzensprung, aber die Meilen ticken einfach nur so weg, es gibt
ständig irgendwelche Landmarken zum Gucken, bevor sie gleich
darauf im Kielwasser verschwinden. Es macht Spaß! Es ist der
typische, von nichts Anderem zu überbietende Spaß,
den Segeln bereitet, wenn es läuft und das Boot unaufhaltsam
durchs Wasser pflügt. Den haben wir jetzt auch noch, ohne
mächtig durchgewalkt zu werden, ohne Stress und Ruderdruck,
Seekrankheit oder Angst, und auch die Befürchtung, es
würde lang, anstrengend und zermürbend, ist
längst Euphorie gewichen: Dies hier entschädigt
für das Warten, wertet es sogar auf im Bewusstsein, dass jedes
andere Vorgehen zu einem schlechteren Ergebnis geführt
hätte.
Die
Boote haben sich ihren Beitrag gut überlegt: Paula segelt
souverän, elegant und vor allem schnell. Mit der rasenden
Martha kann sie beim besten Willen nicht Schritt halten, ich habe meine
liebe Mühe, sie zumindest im Blick zu behalten. Frieda hat die
geplante Ankunftszeit einundzwanzig Uhr im Kopf, und Oli hat sich ja
ohnehin vorgenommen, ihrer Crew bei jeder Gelegenheit einen
Dämmertörn zu bieten. So sehr sie sich
bemühen, konstant nur vier Knoten können sie bei so
viel Wind und mitlaufender Strömung nicht einhalten. Sie sind
zu schnell. Trotzdem geraten sie mit ihren neuen Segeln bald weit
achteraus, aber über sechzig Meilen ist eine Stunde Differenz
zwischen dem ersten und dem letzten Boot gar nicht schlecht.
Björn bekommt, als ich Kerteminde in Sicht habe, eine SMS:
"Zehn Stunden ist nicht übel für schwach umlaufend,
oder?"
Mit
strahlenden Gesichtern, leuchtenden Augen und unverkennbarem Durst
machen wir uns über das letzte Anlegebier her. Und
beschließen, der Reise noch eine letzte Abrundung zu geben:
Per Restaurantbesuch. Da trifft es sich gut, dass direkt an unserem
Steg das Lokal "Marinaen" einen freien Tisch und ein opulentes
Fischbuffet bereithält. Kurzer Weg, exzellentes Essen - allein
die Hummersuppe lohnt schon den Besuch, die klassisch dänisch
zubereiteten Vor- und Hauptspeisen können beim besten Willen
nicht alle von allen probiert werden. Träge,
schläfrig und zufrieden wanken wir Richtung Koje.
Und so endet wieder einmal eine "Wildgänse"-Sommerreise, die
eigentlich genauso war wie alle bisherigen: Unvorhersagbar, voller
widersprüchlichster Erfahrungen, Erlebnisse und Emotionen -
und am Ende zumindest so, dass ich es kaum erwarten kann, kommendes
Jahr wieder mit tollen Crews aufzubrechen ins nächste
Abenteuer.
weiter: "Dragonfly?
Are they fast?" Sechs Wochen Svendborg