Ökologischer Landbau hinterm Deich - purer und reiner Genuss
mit bitterem Beigeschmack: Eine Leiche hängt in der Scheune,
und Ninas Mama ist spurlos verschwunden. Kommissar G. Metzel,
erklärter Liebhaber menschlicher Abgründe, sucht eine
Mörderin. Was er findet, ist eine von Missgunst, Konkurrenz
und Beziehungskrisen erschütterte heile Welt, die sich aber
letztlich als bemerkenswert intakt erweist.
(Es handelt sich um eine alte Version, das G. Metzel und der
angriffslustige Löwe werden wohl demnächst
verschwinden)
Der
Westwind fauchte wie ein angriffslustiger Löwe. Die Wolken
lagen tief und grau und hässlich. Die Regentropfen sausten
beinahe waagerecht über das platte Land. Mia musste sich
mächtig abstrampeln gegen die Böen, die ihr
entgegenschlugen. „Das gibt einen schönen
Muskelkater“, dachte sie sich. Es war nicht das Wetter, bei
dem man einen Fahrradausflug in die Marsch machte. Doch wenn ihre beste
Freundin Hilfe brauchte, ließ sich Mia nicht von schlechtem
Wetter davon abhalten, ihr beizustehen.
Erst recht nicht jetzt, nachdem sie sich gerade für immer
voneinander verabschiedet hatten. Oder jedenfalls für lange,
lange Zeit, bevor Nina schon am nächsten Tag anrief.
„Wie jetzt – ich denke, du bist längst im
Flieger“, hatte Mia fröhlich gesagt und noch nicht
gewusst, ob der Anruf Anlass zu Freude oder Sorge bot. Doch diese Frage
beantwortete sich sofort, indem Nina aufgeregt ins Telefon keuchte:
„Mama ist weg. Und ich hab die Polizei im Haus“,
bevor sie in Tränen ausbrach.
Während Mia also mit dem Wetter kämpfte, zerbrach sie
sich den Kopf, was geschehen sein mochte. Nina und Mia waren
unzertrennlich seit dem Kindergarten. Sie wuchsen auf, während
ihre Eltern die jeweiligen Betriebe aufbauten. Nur –
soweit Mia sich erinnern konnte,
war im Leben von Familie Nuss selten etwas nach Plan gelaufen. So
verzweifelt, wie Nina am Telefon geklungen hatte, war es dieses Mal im
großen Stil schiefgelaufen. Mia trat noch ein bisschen fester
in die Pedalen.
Der Kommissar gab es auf, aus der
tränenüberströmten Kleinen auch nur
irgendetwas herauszubekommen. Er unternahm einen unbeholfenen Versuch,
sie zu trösten, dann setzte er alle Hoffnung auf die Freundin,
die sie verständigt hatte, und ließ sie mit ihrem
Kummer allein. Er wies die Beamten, die mit ihm gekommen waren, an,
sich diskret ein wenig umzusehen, ohne jedoch in Schränken zu
wühlen oder Beweisstücke einzupacken. Dann ging er
hinaus.
Bei Sturm und Regen stand er nachdenklich vor dem abgelegenen Haus mit
der schäbig-braunen Fassade. Er hatte einige Mühe,
sein Feuerzeug in Gang zu bekommen und eine Zigarette
anzuzünden. Noch viel mehr Mühe kostete es ihn, kurz
vor der Pensionierung einen solchen Fall als letzte, große
Herausforderung zu betrachten. Er fand, er sei lange genug Polizist
gewesen, um alle Abgründe der menschlichen Seele zu kennen und
die absurdesten Rätsel gelöst zu haben. Es schien ihm
schlicht unnötig, hier auf einem schlammigen Hofplatz zu
stehen in der unwirtlichsten Gegend, die er jemals besucht hatte,
abgesehen vielleicht von der Grönlandreise, die er seiner Frau
zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Wieviel lieber hätte er
die letzten Monate seines Arbeitslebens damit verbracht, im warmen
Büro Kaffee zu trinken, Akten zu sortieren und an den letzten
Formulierungen seiner Memoiren zu feilen, die er in jahrelanger
Mühe verfasst hatte. Der Wind blies den beißenden
Gestank von Schweinegülle in seine Nase, er musste von dem
erbärmlichen Hof weiter westlich kommen, den er als einziges
Detail im Regen gerade so erkennen konnte. Auch der Hof Nuss schien
einmal Schweine beherbergt zu haben, doch was nach ihrem Stall aussah,
trug jetzt die große Aufschrift
„Hofladen“ und die kleinere Aufschrift
„geschlossen.“
Nein - dieser Fall, voraussichtlich sein letzter, gefiel ihm ganz und
gar nicht: Alles daran kam ihm wie der blanke Hohn vor. Allein schon,
was er da in schmutzig-weißen Lettern auf dem verblichenen
grünen Schild neben der Eingangstür las:
„Pura und Rainer G. Nuss – Ökologischer
Landbau.“
Auf den letzten Metern, die Mia dem Wirtschaftsweg zu Ninas Haus
folgte, wurde sie von den ruppigen Böen beinahe vom Rad
geworfen. Endlich erreichte sie mit letzter Kraft ihr Ziel. Schon von
weitem sah sie einen grauhaarigen Mann im hellen Trenchcoat. Der war
wohl von der Polizei.
Sie ließ ihr Rad fallen und ging auf ihn zu. „Sie
sind wohl die Freundin der jungen Dame?“ sagte er mit
sichtlicher Erleichterung und gab Mia förmlich die Hand. Es
gefiel ihr, wie eine Erwachsene behandelt zu werden. „Mia
Heiter“, stellte sie sich vor , „und wer sind
Sie?“ Er gab ihr seine Karte.
„Kriminalhauptkommissar G. Metzel“ las sie und
musste schlucken. Besonders, als sie darunter das Wort
„Mordkommission“ entdeckte. Besorgt fragte sie, was
denn bloß los sei.
„Kümmern Sie sich erstmal um ihre Freundin. Wir
unterhalten uns später“, empfahl der Polizist.
Nina fiel Mia schluchzend in die Arme. Die Freundinnen verharrten so,
schweigend und in tiefem Einvernehmen, bis Nina sich
einigermaßen beruhigte. Es kam Mia vor, wie damals in der
Grundschule, als die anderen sich einen Spaß aus Ninas Namen
machten. Ninas Mutter hatte sehr unter ihrem ungewöhnlichen,
in
den Ohren der Mitschüler nach purer Arroganz klingenden Namen
gelitten und deswegen beschlossen, ihrer Tochter einen pupnormalen,
hundsgewöhnlichen Vornamen zu geben, der ihr jegliche
Hänseleien ersparen sollte. Doch dann schallte es tagelang
„Ni-Na-Nuss“ hinter der Erstklässlerin
her. Mia stand ihrer Freundin bei. Sie ergriff demonstrativ Ninas Hand,
jedoch erst, nachdem sie den frechen Jungs einen nach dem anderen
tüchtig eine geballert hatte. Sie war eben die Tochter eines
Bauern. Und Nina, deren Eltern Gemüsegärtner und
Hippies waren, lernte schnell. Zusammen waren Nina und Mia
unzertrennlich und unbesiegbar.
In den starken Armen ihrer Freundin fühlte Nina sich bald
sicher und geborgen. „Mama ist verschwunden“,
stammelte sie, dann nahm sie dankbar die Tasse heißen Kakaos
entgegen, die Mia zubereitet hatte. Mehr konnte auch Mia nicht in
Erfahrung bringen, also wandte sie sich an den Kommissar, der
längst nicht so fürchterlich wirkte, wie sein
unheimlicher Name erwarten ließ. Im Gegenteil machte er den
Eindruck eines freundlichen Märchenonkels.
„Was ist denn überhaupt los?“ erkundigte
sie sich.
Das markante, faltige Gesicht des Beamten war ernst. „Sagt
ihnen der Name Konstantin Mies etwas?“ fragte er.
„Konstantin Mies?“, überlegte Mia,
„ist das nicht der Mann, der den Hof hier gepachtet
hat?“
Metzel nickte. „Er ist gestern früh tot aufgefunden
worden. Erhängt in einer Scheune.“
Wie ein Film, der vor ihren Augen ablief, schossen Mia die Konsequenzen
dieser Nachricht durch den Kopf. Pura und Nina wollten auswandern. Nach
Brasilien. Von der monatlichen Pacht, die Mies bezahlen sollte, wollten
sie vorerst ihren Lebensunterhalt bestreiten und sich dort eine
Existenz aufbauen, vielleicht ein Hotel am Strand oder eine
Gärtnerei. Daraus wurde nun aus verschiedenen Gründen
nichts, der Pächter war tot, der Flieger ohne sie abgeflogen,
und Pura verschwunden. Und dass der Tod von Mies und Puras Verschwinden
zur gleichen Zeit geschehen waren, ließ einen Zusammenhang
vermuten, das musste der Kommissar Mia gar nicht erst
erklären.
„Auf den ersten Blick sah es nach Selbstmord aus“,
erklärte Metzel, „aber der Mann ist
zunächst bewusstlos geschlagen worden. Erst danach hat man ihn
aufgehängt. Wir ermitteln wegen Mordes.“
Nina schluckte. „Sie glauben doch nicht....?“
„Dass Frau Nuss etwas damit zu tun hat?“
Genüsslich stieß er den Rauch einer weiteren
Zigarette aus, er formte in der Luft der Eingangshalle lustige Kreise.
„Ich hätte mich gerne mit ihr unterhalten. Sie war,
so weit wir wissen, der einzige Kontakt, den der Tote in dieser Gegend
hatte. Nun musste ich erfahren, dass sie vermisst wird. Sie werden mir
nachsehen, wenn ich das Ganze höchst...“
Metzel suchte ein passendes Wort.
„Mysteriös?“ schlug Mia vor.
„Danke. Ja, wenn ich es mysteriös finde. Ich
würde sogar sagen, verdächtig.“
„Wo hat man ihn denn gefunden? In einer Scheune, sagen
Sie?“
Metzel nickte. „In einer Scheune auf dem Hof von Felix
Puderbär – Sie kennen seine Tochter, nehme ich
an?“
'Oh nein', dachte Mia, 'Melanie Puderbär!' Melanie war die
arroganteste Zicke der ganzen Schule, aber natürlich kannte
sie sie besser, als ihr lieb war. Die wenigen Biobauern in
Nordfriesland hielten ja trotz aller Konkurrenz und aller
Klookschieterei und aller Grenzen von Geest und Marsch, Acker- und
Gemüsebau einigermaßen zusammen. Von Felix
erzählte man sich, dass er die meiste Zeit in seinem
Liegestuhl auf der Veranda verbrachte und sich wunderte, dass er nicht
so richtig die passenden Absatzwege fand für seine fauligen
Kartoffeln, und dass ihm Jahr für Jahr die Kürbisse
verfaulten und verfroren. Aber dass dieser behäbige,
friedfertige Mann in seiner Scheune einen schwäbischen
Pächter aufgehängt haben sollte, erschien Mia wenig
wahrscheinlich.
„Was ist eigentlich mit dem Vater Ihrer Freundin?“
erkundigte sich der Kommissar.
„Mit Rainer?“ Mia winkte ab.
|
|
|
|
|
|
|