Im gyroskopischen Affekt

Islamistischer Anschlag in der Kleinstadt? Technischer Defekt? Oder nur ein Missverständnis? 

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Vollständiger Text:
Robbie Rabuse war so traurig, wie seit dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem Mauerfall und dem Jugoslawienkrieg nicht mehr. Doch es ging um kein einschneidendes Ereignis der Weltgeschichte. Diesmal war er persönlich betroffen. Vier Jahrzehnte Obst und Gemüse – vorbei! Die Gesundheit wurde nicht besser, es wurde Zeit für den Ruhestand. Sein treuer Gefährte ging nun nach Afrika. „Also alles mal durchchecken, ja? Warum denn? TÜV ist doch erst in sechs Monaten.“ Robbie war froh, dass ihn der Autoschrauber seines Vertrauens aus seinen Gedanken riss.

Der Aufkäufer hätte ihn selbst abgeholt, aber Robbie wollte sich eine letzte Fahrt mit dem geliebten LKW nicht nehmen lassen: „Ich bringe ihn selbst hin. Einmal in den Hamburger Hafen muss er es noch schaffen.“ Der Mechaniker war skeptisch: „Lohnt sich das denn?“ Robbie schüttelte den Kopf. „Gelohnt hat sich das Geschäft doch schon lange nicht mehr.“ Er fühlte sich nicht wohl. An die Schmerzen im Rücken und an den Knien hatte er sich gewöhnt. Hinzu kamen in letzter Zeit beständiges Bauchweh und ein gelegentliches Pochen in den Schläfen.

Der Mechaniker beendete seine Runde um das Fahrzeug. „Also hier und hier und da am Schweller würde ich ein bisschen Schweißen. Dann die Bremsleitungen hinten – die sind durch. Und ehrlich gesagt, der Reifen hier hinten, der äußere: Mit dem kommen Sie nicht mehr nach Hamburg.“ Robbie stimmte zu: „Gut. Alles machen.“ Der Schrauber unternahm einen letzten Versuch, ihm das auszureden: „Sind Sie wirklich sicher? Soll sich doch dieser Aufkäufer damit rumschl....“ – „Nein!“, unterbrach ihn Robbie, „diese letzte Fahrt noch, das muss sein. Egal wieviel das kostet.“ Der Meister zuckte die Schultern. „Sie sind ein romantischer Träumer“, stellte er resigniert fest. Robbie antwortete nicht, doch er stimmte zu: Er war einfach zu sentimental. Er hatte ernsthaft in Erwägung gezogen, den alten MAN zu behalten. Ihn im Vorgarten abzustellen und ihm eine Facebook-Seite zu widmen. Doch wer würde dort alten, ausrangierten Kram liken? Wenn Robbie daran dachte, musste er sich beinahe übergeben. Genau wie während der Tagesschau.

Der Lehrling machte sich an die Arbeit. Sein Chef zündete sich eine Zigarette an. Robbie sagte: „Seit der Supermarkt im neuen Gewerbegebiet eröffnet ist...“ Der KFZ-Meister winkte ab. „Das Lieblingsspielzeug unseres Bürgermeisters! Pah! Vornerum ist der zu allen lieb und freundlich, hintenher ist er ein arrogantes Arschloch. Ein Wichtigtuer und Blender ist das, sonst nichts. Alle fahren sie total auf den ab, jeder findet ihn toll. Ganze drei Gewerbegrundstücke sind bisher verkauft. Man hat uns Arbeitsplätze versprochen – bisher hat das Ding höchstens Arbeitsplätze gekostet.“

„Ja“, stimmte Robbie resigniert zu, „zum Beispiel meinen. Und der türkische Kollege hört auch auf.“ Es tat ihm gut, dass der Mann in markigen Worten aussprach, was auch er dachte. Er schätzte ihn. Als zuverlässigen Handwerker wie als verständnisvollen Mitbürger von gewisser Menschenkenntnis. Er war einfach ein Mensch – keiner ließ sich ausschließlich auf seine schlechten Charakterzüge reduzieren. Wenn er jetzt bloß nicht wieder auf sein Lieblingsthema kam, bei dem sie sich absolut nicht einig waren...

„Und gegen die ganzen sogenannten Flüchtlinge unternimmt der gar nichts!“ schnaubte der Meister jetzt. „Ich gehe morgen zum Anwalt. Unser Anwalt hier soll ein Guter sein, hab ich gehört. Ein aufrechter Deutscher. So einer wählt auch die AFD. Daraus wird eine ganz große Sache! Sie werden sehen. Selbst wenn wir vor Gericht keine Chance haben – aber wir bringen die Menschen auf die Straße!“ Träumer gab es offensichtlich in allen politischen Lagern. Das Wunder von Bern und die Silberpfeile kamen Robbie in den Sinn, und das verursachte ihm zusätzliches Unwohlsein. „Wann kann ich den Wagen abholen?“, fragte er nur noch. Der Lehrling hatte bereits einen passenden Reifen gefunden und rollte ihn aus dem Lager.

***

Willkommene Sonnenstrahlen erfüllten die Fensterfront der Kanzlei mit fröhlichem Licht. Angenehme Wärme strömte durch die geöffnete Glastür. Der Anwalt grüßte fröhlich eine Passantin, nippte an seinem Glas und nahm ein Stück der betörenden orientalischen Süßigkeit, die einladend seinen Schreibtisch schmückte. „Greifen Sie zu“, wandte er sich an seinen Besucher, „möchten Sie auch ein Glas Tee?“

„Nein, danke“, brummelte der Mann. „Was kann ich denn für Sie tun?“

„Mein Nachbar ist Syrer.“

Die Baklava-Stücke klebten sich zusammen. Abrupt erkaltete der Tee. Der Anwalt reagierte nicht. Sein Gast verzog trotzig das Gesicht, verschränkte die Arme vor der Brust und behauptete: „Der ist garantiert vom IS. Sind die doch alle. Aber ich – ich habe Frau und Kinder. Der Sohn hat schon mit meiner Tochter angebandelt. Es wird in diesem Land ja wohl Möglichkeiten geben, sich vor diesen Kamelreitern zu schützen.“

Was sollte es helfen, dem Kerl die aussichtslose Rechtslage zu erklären? Oder ihn hinauszuwerfen? Beides würde ihn in seiner Haltung noch bestätigen. Und das Problem nicht lösen. „Haben Sie denn mit Ihrem Nachbarn mal geredet?“, erkundigte sich der Anwalt. Ein finsterer, bitter enttäuschter Blick gab ihm die Antwort.

***

Auf der Hauptstraße entfaltete sich, nachdem ausgangs einer Kurve bei zügiger Fahrt die letzte Radschraube herausgefallen war, der gyroskopische Effekt. Sein immerwährendes Bestreben, die Weltgeschichte zu beeinflussen, ließ das schlingernde Rad im Wesentlichen einer geraden Linie folgen, aus der sich erschrockene Frauen, entsetzte Männer, kreischende Kinder in Sicherheit brachten. Wohin das Rad rollen würde, darauf hatte der gyroskopische Effekt keinen Einfluss. Das war allein eine Frage der Architektur.

***

In dramatischem Tempo rotierte etwas schwarzes Rundes durch die Tür. Mit Wucht stieß es gegen den massiven Schreibtisch. Das mächtige Eichenholz splitterte. Der Tee spritze an die Decke, die Baklavastücke schleuderten an die Wand. Der Anwalt machte, eingezwängt zwischen der Wand in seinem Rücken und den Resten seines Tisches ein ratloses Gesicht. Das Rad vergeudete seine letzte Energie zwischen den Eichentrümmern und dem Stuhl des Besuchers. Schließlich landete es – hopp! – im Schoß des verdutzten Mannes. Im Affekt war er es zu Boden.

Kurzes Schweigen. Dann verständigte der Anwalt die Polizei. Der Besucher alarmierte die Presse. Der Reporter der Lokalzeitung traf als Erster ein. „Ein Attentat“, diktierte ihm der Mann, „das haben wir jetzt davon, dass wir die Moslems ins Land lassen: Man will sich einen Anwalt nehmen, um sich zu wehren – schon greifen sie an, die Terroristen.“ Die Polizisten nahmen die Personalien der Zeugen auf und stellten das Rad sicher.

***

Robbie Rabuse war so traurig, wie seit dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem Mauerfall und dem Jugoslawienkrieg nicht mehr. Eine dermaßen krude Verschwörungstheorie! Und sie stammte von einem an sich so umgänglichen Zeitgenosse - der doch doch wissen musste, dass sein eigener Lehrling die Radschrauben angezogen hatte. Die Überschrift des Artikels lautete: „Islamistischer Anschlag auf Anwaltskanzlei? Polizei ratlos.“





 
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