Reise ins Harz (Organische Chemie vom Anfänger)

 

Über Feedback freut sich: Nicolas Thon
 
Styrole sind keine DJs. Sie legen keine Schallplatten auf. Sie warten auf das Eintreffen des Peroxids. Bis dahin chillen sie: Sie lehnen sich entspannt zurück in dem ungesättigten Polyesterharz, das sie wie ein Brei umgibt, gefallen sich darin, angenehm süßlich zu riechen, und schwenken einander fröhlich ihre Vinylgruppen zu.

Und später dann? Nun, bei Eintreffen des Zuges werden sie aktiv, und wenn die Reaktion erstmal abgelaufen ist, lässt sich wenig ändern am Resultat...


*


Das grobe Rütteln an der Schulter passte ebensowenig in den Traum wie die laute, barsche Stimme: "Sie lachen! Mann, hören Sie auf damit!" Etwas erschrocken rappelte der Reisende sich auf, als er sich im Zugabteil wiederfand. "Reißen Sie sich zusammen, Mann. Lachen Sie nicht", forderte der empörte Fahrgast.

Der Reisende rieb sich die Schläfen. "Entschuldigung", murmelte er, "ich habe geträumt." Sein Gegenüber lehnte sich missgelaunt zurück, starrte auf seinen Koffer und schwieg. "Was haben Sie denn geträumt?", erkundigte sich die ältere Dame auf dem Nachbarsitz.

Der Traum war dem Träumer noch sehr präsent. "Ich war..." - beinahe hätte er gleich wieder laut gelacht, doch unter dem missbilligenden Blick seines Widersachers riss er sich zusammen - "zu Besuch bei einer Bekannten. Nein, keiner konkreten Bekannten, das ist ja in Träumen oft so, dass es ganz plausibel scheint, bei wem man zu Besuch ist, auch wenn man diejenige schon Jahre nicht gesehen hat, doch dann wechselt die Person mehrfach im Laufe des Traums, ohne dass einen das wundert. Wissen Sie, was ich meine?" Die Dame nickte amüsiert.

"Doch diesmal war das anders. Einfach eine Bekannte. Eine, die ich nur im Traum kenne. Na, ist ja auch egal, auf jeden Fall war ich da zu Besuch. Und sie hatte ja so eine Windmühle in ihrem Zimmer."

"Eine Windmühle?" Die Dame wirkte, als werde sie jeden Augenblick losprusten. Betont desinteressiert guckte der Widersacher aus dem Fenster. "Eine Windmühle. Keine solche große, wie sie bei uns üblich sind. Eher ein spanisches Modell, mehr Holz, weniger Mauerwerk, insgesamt etwas kleiner, aber jedenfalls eine richtige, ausgewachsene Windmühle. Und sie drehte."

"Muss ja ein zugiges Zimmer gewesen sein", brummelte der Desinteressierte. "Und ein großes", pflichtete die Dame bei. Doch nein, es war ein ganz normales, gemütliches, eher kleines Zimmer ohne Durchzug. Und doch wirkte es völlig plausibel, dass dort eine aktive Windmühle stand.

Leider war sie schlecht fundamentiert. Sie wanderte unter der Vibration, die ihre rotierenden Flügel verursachten. Den Teppich konnten sie noch retten, zerrten ihn im letzten Moment unter der Windmühle hervor, rollten ihn zusammen und legten ihn zur Seite. Doch als nächstes stieß die Windmühle gegen den Tisch. Sie warf ihn um, mit allem, was darauf war, Teller, Tassen, Pinsel und Farben. "Und dann musste ich so lachen...", erklärte der Reisende. "Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe."

Er sah jetzt auch aus dem Fenster. Der ICE brauste durchs platte Land. Die tiefstehende Sonne tauchte die Landschaft in das liebliche Grün eines allzu milden Winters. Hin und wieder lockerte ein Gehöft, ein Bachlauf oder eine Baumgruppe die endlose Weite der Wiesen und Felder auf. Es war hübsch anzusehen. Beruhigend in seiner eintönigen Lieblichkeit. "Schön, nicht?", sagte der Reisende lächelnd. "Nein", widersprach der Mürrische. Die ältere Dame lachte. Das brachte ihr einen vorwurfsvollen Blick ein, dem sie standhielt.

Grau. Zuerst war es nur eine Straßenbrücke. Dann ein ganzes Autobahnkreuz, begleitet von Bahnüberführungen, Fabrikgebäuden und Lagerhallen, alles Beton, alles grau, ein markanter Kontrast zur Landschaft von eben. "Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Fahrgäste", quäkte es aus dem Lautsprecher, "wir erreichen nun in Kürze..." Die Mitreisenden erhoben sich, nahmen ihre Mäntel und ihr Handgepäck. Die ältere Dame verabschiedete sich augenzwinkernd. "Träumen sie weiter", empfahl der Mann, "aber leise."

Der Zug fuhr wieder an und ächzte zwischen Betonbauten. Der Reisende behielt das Abteil für sich. Bald flog draußen wieder grüne Lieblichkeit rasant vorbei. Wie schön! Endlich mal wieder Sonne. Aber was war das nur für ein Traum gewesen? Und welch ein Rüpel? Was hatte der dagegen, dass man lachte? Endlich mal wieder Lachen! Und hach! diese schöne Landschaft, selbst in ihrer flachen Eintönigkeit! Schläfrig blinzelte er gegen das nach Wochen bedeckten Himmels und unablässigen Nieselregens ungewohnte Licht an. Wie lange noch bis ans Ziel? Er sah vergeblich auf seine imaginäre Armbanduhr, hätte das Mobiltelefon herauskramen müssen. Doch ach, es ging ja nicht schneller in Kenntnis der Uhrzeit. Da guckte er lieber weiter verträumt aus dem Fenster.

Kein Grün mehr. Sperrholz. Keine Sonne, keine Landschaft. Lauter Sperrholz. Kein blauer Himmel, oder wenigstens einer von anderer, beliebiger Farbe. Nur noch Sperrholz vor diffusem Hintergrund. Verstört kramte der Reisende nach seinem Smartphone, nahm die Zeit zur Kenntnis und vergaß sie gleich wieder. Phlegmatisch überzeugte er sich davon, keinerlei Nachrichten erhalten zu haben. Draußen war immer noch alles aus Sperrholz.

Die Schiebetür öffnete, makellos uniformiert trat die Schaffnerin ein. "Guten Tag, bitte die Fahrkarte." Der Reisende reichte sie ihr. "Sagen Sie, was ist da draußen los?"

"Wie meinen Sie?"

"Da ist keine Landschaft. Es ist alles aus Holz. Eben war es doch noch so schön."

"Ja. Auf diesem Streckenabschnitt verzichten wir auf Elemente der Landschaftsgestaltung. Eine Kundenbefragung ergab, dass die Mehrzahl der Fahrgäste sich lieber eine eigene Vorstellung der Umgebung macht."

"Ach", seufzte der Reisende. Er nahm sein Telefon. "Sicher gibt es eine App dafür?", hoffte er.

"Eine App?"

"Das gehört doch sicher zum Service." Die Zugbegleiterin lächelte aufmunternd. "Diese App, das wäre dann Ihre Phantasie." Sie wünschte einen angenehmen weiteren Verlauf der Reise und verließ das Abteil.

Der Reisende glaubte seinen Widersacher von vorhin jetzt schadenfroh lachen zu hören. Alles nur Sperrholz, wenn man die Deko wegließ, das konnte doch nicht wahr sein! War die Welt nichts anderes als eine Modellbahnanlage? Und hier war sie nicht rechtzeitig vor Weihnachten fertiggeworden, so dass die Kinderchen ohne aufgeklebten Rasen, Plastikbäume und Minihäuschen glücklich werden mussten? Es gab viele schöne Orte auf der Welt, an denen er jetzt lieber verweilt hätte, anstatt über eine schmucklose Sperrholzplatte transportiert zu werden. Zu viele. Durchs Hochgebirge? Entlang einer tropischen Küste? In der Wüste? Über lappländische Hochplateaus? Oder gar hinaus ins Weltall? Oder womöglich....nein.

Er konnte sich nicht für einen Ort entscheiden, von dem er zu träumen wünschte, und so sah er in seinem Inneren weiterhin, was er draußen die ganze Zeit schon sah: Nichts. Er versuchte es mit einem Zukunftsszenario, in dem glückliche Menschen von selbstfahrenden Elektroautos ans Ziel gebracht wurden. Auch dieser Versuch misslang - hier und da erinnerte ihn etwas an einen Schrotthaufen, doch der Zug raste viel zu schnell daran vorbei, um sicher sein zu können. Weitgehend blieb es wie bisher.

Dann kam die Chemiefabrik. Betonwände, Edelstahlkessel, Rohrleitungen. Arbeiter in blauen Overalls, gelbliche Dampfwolken, fauliger Gestank. Der Zug fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit mitten hindurch. Im Hintergrund ein hell erleuchterter Raum: Wissenschaftler in weißen Kitteln hantierten mit Petrischalen, Bunsenbrennern und Reagenzgläsern. Dann das Lager: Regale zu beiden Seiten, endlose Reihen silbriger Blecheimern mit weißen Etiketten.

Die Fabrik, das Lager, ihre unwahrscheinliche Ausdehnung, selbst die Teilnahmslosigkeit der Arbeiter - alles wirkte plausibel und geradezu vertraut. Die Bahn hatte wohl das unrentable Werksgleis aufgeben wollen, vermutete der Reisende, es dann aber auf Wunsch der Firma beibehalten und sparsamerweise einfach in die Hauptstrecke integriert. Warum drosselte man nicht wenigstens die Geschwindigkeit? Wäre das nicht sicherer? Nun, als Fahrgast begrüßte er, dass es ohne Verzögerung weiterging. Der Zug erreichte das Ende des Lagers. Es ging in den Kessel.


*


Die Einfahrt des Zuges verlieh untätig herumlungernden Styrolmolekülen genug Energie, um die kleinen Kerls in Stimmung zu bringen. Gierig stürzten sie sich auf jede Doppelbindung, die sie im Polyesterharz finden konnten, bissen sich fest, knabberten sie auf, reihten sich ein, allein oder in Paaren. Immer schön der Reihe nach, so ein Tanz ist ziemlich schweißtreibend, und wenn er allzu heftig tobt, wird es übermäßig heiß - mit übertrieben viel Peroxid ist so ein Kessel auch schon in Flammen aufgegangen. Doch heute war wohl der Zug mit der exakten Menge beaufschlagt. Hatte er sie bei der Durchfahrt der Produktionsanlagen aufgesammelt? Oder genügte - darüber spekulierten später die Fachleute und die Presse, doch den Styrolen war es gleichgültig - die kinetische Energie des Zuges, die er beim Eintauchen ins Harz an die zähe Masse abgab? Allmählich polymerisierte sich das bunte Treiben zu langen, steifen, stabilen Ketten, deren wachsende Viskosität den Zug umgab und vollständig stoppte. Das amorphe, blässlich-farblose Duroplast würde ihn für ewige Zeiten festkleben.

Der Fahrgast starrte aus dem Fenster ins weißliche Nichts und fragte sich...


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