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Die Kanalinsel (Sommerreise 2021, Episode 2)

„Als wir gestern Abend ankamen“, berichtet der Stegnachbar, „war der ganze Hafen voll, aber an diesem Steg lag kein einziges Boot. Wir haben uns gefragt, ob man hier überhaupt anlegen darf, oder ob das vielleicht ein Vereinssteg ist.“ Sie haben dann gleichwohl angelegt, „und als ich heute morgen rausguckte, hab ich gedacht: ‚Ach du Scheiße! Das ist wirklich n Vereinssteg!“ Warum? Weil da plötzlich lauter Folkeboote lagen.

Er konnte nicht ahnen, dass die „Wildgänse“ eine neue Spezialität haben: Mit einem Affentempo durch die Nacht zu sausen und sich mit dem ersten Licht in den Hafen zu schleichen.

Juni/Juli 2021

Vier Paare, alle waren schonmal da, alle können segeln (und lernen natürlich trotzdem jede Menge dazu) – die Gruppe ist recht homogen. Am zweiten Tag wirkt es schon so, als wäre das ein Freundeskreis, der seit Jahren gemeinsam segelt. Eva ist die einzige ohne Segelerfahrung – Bollo fängt das mit geduldigen Erklärungen aller Manöver auf. Seine Ruhe prallt dabei auf Evas Extrovertiertheit und schlicht Anspannung, vom Steg aus wirkt das meistens recht lustig. Und immer klappt es letztlich ganz wunderbar.

Die Großwetterlage ist wenig hilfreich – zunächst haben wir hartnäckig Nordwind, dann liegt Dänemark unter einer Luftmassengrenze, was uns fast täglich Gewitterwarnungen beschert. Dank der hervorragenden Prognosen von DMI nutzen wir Strömung, risikofreie Zeitfenster und jede günstige Brise zu Punktlandungen: Immer rechtzeitig ans Ziel, bevor es zäh oder ruppig wird.

Die erste Woche ist schnell erzählt: Samstag Flaute, Sonntag bei schönstem Wetter entspannt nach Strynø. Montag hangeln wir uns von Windfeld zu Windfeld, treiben mit der Strömung durchs Rudkøbing Løb (ein Schaumklecks bleibt zwanzig Minuten auf gleicher Höhe) und schaffen es nach Lohals, wo uns Erik und Pommery schon erwarten. Dienstag ist nördlich der Store Belt Bro bereits der Teufel los aus nördlichen Richtungen, deshalb begnügen wir uns mit einem schnellen Schlag nach Agersø. Nach einem Hafentag geht es in zwei seekrankheitsträchtigen kurzen Schlägen und einem langen nach Sejerø. Bis hierhin war es ein normaler Segeltörn, jetzt beginnt die Magie.

Auf Sejerø waren wir zuletzt vor drei Jahren. Mit dabei waren auch Boris und Kathrin. Ich erinnere mich mit Grusel an den Tag, an dem wir von der furchtbaren Welle im Großen Belt bös gerupft wurden. Erst die zwölf Meilen nördlich von Sjælland waren einigermaßen zum Entspannen. Wir kamen spät an und wollten früh weiter, also blieb gerade noch Zeit, all den nassen Sachen ein bisschen Abendsonne zu gönnen. Boris erinnert sich auch noch daran, dass im Hafen Party mit Livemusik war.

Heute ist der Tag des Viertelfinales: Dänemark gegen Tschechien. Das habe ich nicht im Kopf, als Paula genau zum Anstoß in den Hafen segelt .Fünf Minuten später legen wir an, aus dem Cafe schallt vielstimmiger Torjubel. Bevor die Charterboote eintreffen, habe ich schon die Bühne und die Instrumente der Band gesehen – heute ist auf Sejerø Rock’n’Roll. Kaum haben Frieda und Martha angelegt, fällt das nächste Tor. Dänemark ist im Halbfinale, die jungen Leute auf der Bühne rocken eher altbackenes Zeug. Ist uns egal, Hauptsache sie finden gegen zehn Uhr ein angenehm frühes Ende, denn morgen ist wenig Wind, also sollen wir früh los.

Oder? Morgens um sechs blase ich das ab. Mehrstenteils ist überhaupt kein Wind, wozu sollen wir da draußen dümpeln? Montag sieht es ganz gut aus, allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass uns eine gewittrige Kaltfront im Nacken säße. Paula und ich freuen uns über den handfesten Grund, die Gäste zu ihrem Glück zu zwingen: Eine Nachtfahrt, das begreifen alle sofort, ist die sicherste und vernünftigste Alternative.

Begeistert sind sie trotzdem nicht: Bollo hat schon deutlich betont, dass er ganz und gar kein Nachtmensch ist. Eva ist sowieso immer ein Nervenbündel, jetzt fragt sie dreimal nach, ob das auch wirklich nicht gefährlich sei, was wir da vorhaben. Wolfgang sagt nichts, verzieht sich unter Deck und brummelt skeptische Laute. Ich selbst gucke wieder und wieder auf die Windprognose und befürchte eine unglaublich zähe Reise. Anfänglich Ost zwei, später vielleicht Südost drei und noch später in Böen vier; ich hoffe mehr, als dass ich mir sicher bin, dass wir den Tiefwasserweg schaffen, bevor es zu dunkel wird, um nahende Frachter gut zu erkennen – Positionsleuchten sind schön und gut, aber man kann in der Dunkelheit absolut keine Entfernungen einschätzen. Auch ich ahne nicht, wie gut Paula das hier wieder arrangiert hat.

Auslaufen um acht Uhr, gleich geht es mit dreieinhalb Knoten voran – viel besser als erwartet. Zwischendurch werden es auch mal knapp fünf, zum Sonnenuntergang nähern wir uns Tonne 14; hier wollen wir Weg T überqueren. Praktischerweise schläft der Ostwind weitgehend ein: Wir müssen keine Warteschleifen drehen, segeln einfach, so gut es noch geht, auf die Tonne zu, während ein Containerschiff, ein Tanker und zwei Kreuzfahrer aufkommen.

Die Kreuzfahrer sind „Mein Schiff 3“ und „Mein Schiff 6“. Als sie sich begegnen, grüßen sie einander mit lautem Getute. „Mein Schiff 3“ hat keine Gäste, es ist eine Überführungsfahrt mit dieselsparenden sechs Knoten – keine Bugwelle, kein Stress. Der angekündigte Südost setzt genau in diesem Moment ein, Paula segelt unbefangen auf fünfzig Meter an den großen Dampfer heran und um sein Heck herum. Kaum sind wir vorbei, bekommen wir richtig Wind und sind eine Weile schneller als der Kreuzfahrer: Wir sausen mit sechseinhalb Knoten durch die Nacht. Wind und Welle sind absolut vergnüglich, da ist ordentlich mitlaufende Strömung im Spiel, auch damit hatte ich eher spekuliert als fest gerechnet.

Einziges Problem: Wir sind zu schnell! Mit diesem Speed kommen wir in Grenaa vor drei Uhr an, und angesichts der Bewölkung zweifle ich, ob es dann hell genug ist. Die Frage stellt sich aber gar nicht, denn im Approach bestellt Paula die Viertwindstärke wieder ab, so dass wir ganz geruhsam auf den Hafen zusegeln können, während es heller und heller wird. Um vier Uhr sind wir fest.

Und die Gäste? Sogar Eva ist total begeistert, die Gäste danken uns für ein echtes Erlebnis. Manchmal muss man sie eben zu ihrem Glück zwingen. Ausschlafen, einkaufen. Spätnachmittags ist gemeinsames Essen am Grillplatz vorgesehen. Grenaaer Woche wie vor zwei Jahren soll es natürlich nicht wieder geben, also sollen wir dann auch den nächsten Tag besprechen. Für nachmittags ist dann erneut Gewitterwarnung – das spricht für richtig frühes Auslaufen. Ich rappele mich aus der Koje, um einen Plan zu entwerden, während es blitzt und donnert, der Regen prasselt und der Wind höllisch pustet. Paula hat sich etwas ganz Neues ausgedacht. Sie lässt mich in dem guten, alten, seit 2010 nicht mehr aktualisierten DSV-Hafenhandbuch blättern. Dort, und nur dort, gibt es eine Skizze, ein Luftbild und einen knappen Text zu einer winzigen Insel acht Seemeilen landeinwärts im Randers Fjord. Ich kann kaum glauben, was ich da sehe. Und bin der Meinung: Da müssen wir unbedingt hin!!!

Flaute bis acht spricht eindeutig gegen Auslaufen um fünf. Wir einigen uns auf acht Uhr, das verlängert den geselligen Abend über Gebühr. Morgens ist schon um sieben herrlicher Wind. Die Abfahrt lässt sich so spontan natürlich nicht mehr beschleunigen. Die Gäste haben beim Ablegen alle Mühe mit der Brise von drei bis vier, die auflandig auf den Boxen steht. Es ist aber auch misslich, dass ein Boot, das quer vor der Box an den Pfählen liegt, nicht losfährt, weil die Fender überall hängenbleiben oder wenn man, nachdem man den Bug vom Pfahl abgedrückt hat, nicht sofort den Gang einlegt und Gas gibt, sondern zögert, bis der Bug zurück am Pfahl ist – ich bekomme einen Anflug von schlechter Laune. Die ist aber gleich vergessen, als wir endlich unterwegs sind.

Das Fahrwasser im Randers Fjord wurde 1908 durchgehend auf zunächst dreieinhalb Meter vertieft (inzwischen sind es sieben Meter), damit die recht große Stadt von Dampfschiffen angelaufen werden kann. Im Bereich von Kare Holm konnte man offenbar nicht die natürliche Rinne vertiefen, vielleicht liegen da lauter Felsen, also hat man gleich am Ostufer einen Kanal ausgehoben. Den ganzen Abraum hat man nicht abtransportiert, sondern direkt daneben aufgetürmt – es entstand eine schmale, kleine Insel: Die Kanalinsel.

Heute ist sie im Hafenhandbuch, das dem Seekartensatz beiliegt, überhaupt nicht erwähnt. Was ich aber auf dem alten Luftbild sehe, ist ein idyllisches Kleinod, und ich erwarte, dass wir es ganz für uns allein haben. Im Text steht nämlich, dass Kanaløen für Wochenendausflüge beliebt ist, und heute ist Dienstag.

Die liebliche Enge des Randers Fjord bildet schonmal einen tollen Kontrast zur Weite des Kattegats, die wir letzte Nacht und auch heute während der ersten Stunden betrachten durften. Enger Betonnung folgend, segeln wir durch die Landschaft. Tide gegenan, wir schaffen nur vier Knoten und nähern uns dem Beginn der Gewitterwarnung: Ab fünfzehn Uhr ist damit zu rechnen. Um halb drei taucht unser Ziel hinter der letzten Biegung auf. Der Wind dreht auf Süd, bei 5-6 müssen Paula und ich jetzt noch tapfer kreuzen. Wir nehmen nicht den Kanal, sondern die alte Nebenrinne. Sie ist breiter als die Rinne in Arnis, kreuzen also kein Problem, nur ist der Abzweig zum Hafen überhaupt nicht markiert. Ich vermute: Rechtwinklig abbiegen kann nicht ganz falsch sein. Und so rauschen wir in den tatsächlich komplett leeren Hafen, fahren mit wild knatterndem Groß unseren Aufschießer und sind da. Zur Begrüßung gibt es gleich einen Schauer.

Es gibt dort aber auch eine Toilette und einen „Clubraum“, der wirklich pfiffig gebaut ist mit Schiebtüren ringsum und einer Lattenkonstruktion, die den Wind aussperrt und das Licht reinlässt. Hier lassen wir uns das obligatorische Anlegebier schmecken, und keiner kann wirklich fassen, wo wir hier hingeraten sind. „Es ist schön hier“ lässt sich über jede Menge Orte und Häfen sagen – dieser ist einzigartig und schwer zu beschreiben. Dann kommt auch noch die Sonne raus! Und schließlich verwöhnt uns die Wetterlage mit bizarren Wolkenformationen, die wir ehrfürchtig bestaunen. Das eine oder andere Boot segelt durch den Kanal – zu sehen sind Segel mitten im Schilf. Als schließlich doch noch einer der Schauer auch uns trifft, ziehen wir wieder um in den Clubraum.

Im Rahmen eines beinahe perfekten Segeltörns ist dieses Erlebnis hier nicht mehr zu toppen. Also versuchen wir das gar nicht erst, sondern nehmen uns Hals am Eingang des Limfjords als vorletztes Tagesziel vor. Wir sausen mit der Tide durch den Randers Fjord. An seinem Ausgang wirft uns ein einzelner siebemer Drücker mächtig auf die Seite, achteinhalb Knoten über Grund sind ein beachtlicher Speed, aber danach mäßigt sich der Wind zu einer stetigen vier. Die Wolkenbänder senden ihre Spitzen übers Kattegat, und es ist gut zu sehen, dss sie viel weiter rausmüssen als unsere Kurslinie, um genug Energie zu tanken für ein regnerisches, böiges Spektakel. Wir sind also sicher. Schließlich löst sich der ganze Wolkenkram über dem Wasser komplett auf.

Kurz vor Hals sind es dann auf einmal gute fünf Windstärken, und der bestenfalls okaye Hafen wird unser einziger Fehlversuch, freie Plätze zu finden. Paula segelt kurz mit Vollzeug rein, wendet und kreuzt wieder raus – wenn die schon im Zweierpäckchen in der Ausfahrt liegen, sind fünf leere Plätze weiter innen extrem unwahrscheinlich. Boris, Katrin und Martha knattern uns mutig entgegen, bergen im engen, zugeparkten Vorhafen die Segel und gucken sich das nochmal aus der Nähe an. Erwartungsgemäß ohne durchschlagen Erfolg.

Was nun? Egense gegenüber wäre die naheliegende Alternative, aber ich befürchte, dass es auch dort keinerlei Windabdeckung gibt und ein sportliches Einlaufen zur gleichen Enttäuschung führen würde. Da erblicke ich landeinwärts den kleinen Klubhafen Mou. „Buchstabier mal“; sagt Katrin. „Mike Oscar Uniform. Segelt einfach hinterher.“

Mou sieht aus, als hätte hier halt irgendwann mal jemand an einem unspektakulären Ort einen unspektakulären Hafen gebaut, damit seine Freunde ihre Boote anbinden können. So wirkt es von draußen, so wirkt es auf dem Luftbild, so erwarte ich es von dieser Art Sportboothäfen. Aber es gibt Abdeckung, entspanntes Anlegen (durch die Einfahrt wriggen wir gegen den spärlichen Wind!) und vor allem fünf freie Plätze nebeneinander. Und dazu einen grandiosen Blick über den östlichen Teil des Limfjords, von Hals bis zum Kraftwerk. Es ist hier viel schöner, als Hals jemals hätte sein können, und wir haben unsere Ruhe. Der rüstige Senior, der hier den Hafenmeister gibt, spricht nur Dänisch und kassiert nur dänische Kronen. Eva ist nicht so wirklich mit ihm klargekommen, ich versuche es in Landessprache: Ich zeige ihm die 550 Kronen, die wir noch zusammenkratzen konnten. 675 wäre der reguläre Preis. Aber er ist vollauf zufrieden mit dem Gebotenen und lädt uns ein, im Clubheim Fußball zu gucken.

Ach ja, Fußball – heute ist ja das in Sejerø nach spannendem Spiel erreichte Halbfinale gegen England. Unser Gastgeberland hat alle genug beeindruckt, um sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen zu wollen. Im Clubheim guckt sich allerdings ein einsamer Däne das Spiel auf dem Handy an, der große Fernsehbildschirm zeigt eine Fehlermeldung. Das können wir besser organisieren: Paulas Laptop loggt sich ins leistungsstarke WiFi ein, nebenan auf Frieda tummeln sich die Gäste im Cockpit. Ich muss den Laptop noch mit einer leeren Tupperdose unterfüttern und mir abgewöhnen, den Arm auf die Süllkante zu legen, dann können alle gut sehen.

Die sechzehn Meilen nach Aalborg sind dann erneutl höchst spannend und abwechlungsreich. Es beginnt damit, dass Martha und Oli außer Sichtweite segeln, weil der Südwest während Saltys Ablegen abrupt einschläft. Der nachfolgende Ostwind setzt sich zunächst immer nur mal fleckchenweise durch, was dazu führt, dass Frieda und Paula einander stundenlang gegenseitig überholen, auch mal fünfzig Meter in Lee mit Affentempo, während das andere Boot steht. Stetiger Wind kommt mit dem Regen, aber der ist uns egal. Wir passieren um sechzehn Uhr die Straßen- und eine halbe Stunde später die Bahnbrücke. Direkt dahinter liegt der Hafen. Wieder einmal ist es ein erhabenes Gefühl, nach all der Idylle in die Urbanität zu segeln – in den letzten Jahren haben wir damit die vier großen dänischen Städte besucht. Enttäuscht wurden wir nie, das ist alles sehr sehenswert. Es bleibt noch Zeit für Stadtbummel und einen würdigen letzten gemeinsamen Abend mit hafennaher Erlebnisgastronomie.

Wie soll man es zusammenfassen? Mega? Überragend? Einfach nur geil? Das gehört alles nicht zu unserem aktiven Wortschatz, deshalb sagt das Leuchten in der Augen der Gäste vielleicht mehr aus als all die Dankesworte. Es war toll mit euch! Es sind wieder einmal Dinge passiert, die weder planbar noch erklärbar sind - bei uns gehören sie zum Programm. Dafür sorgen Paula und ihre Schwestern. Was haben sie sich wohl für die nächste Etappe ausgesucht?


weiter: Mein persönlicher Limfjord