Paulas Törnberichte | ![]() |
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Der
Seeerfolgsvogel
Richtig frühlingshaft will es bisher nicht werden. Seit dem
Morgen des Tages, an dem ich die Masten gestellt habe, war kein Eis
mehr im Hafenbecken, aber warme Kleidung und abendlicher
Heizlüfter leisten gute Dienste. Gleichwohl hat mit guter
Laune, schönen Begegnungen und interessanten Erlebnissen die
Saison begonnen.
Und dann war da plötzlich dieses Wort:
Seeerfolgsvogel. Hatte ich auch noch nie gehört, aber
Wikipedia wusste Rat und gab umfassend Auskunft.
April 2023
Manche
Vogelarten haben keine echten Männchen, sondern nur Weibchen
und Seeerfolgsvögel. Wieder andere Vogelarten haben alle drei.
Die Weibchen paaren sich dann bevorzugt mich richtigen
Männchen. Wenn aber ein Seeerfolgsvogel auf See gewesen ist
und dort seinen Erfolg hatte – dann ist er unwiderstehlich.
An dieser Stelle weckte mich mein eigenes Lachen. Eine halbe Stunde
taperte ich mitten in der Nacht kichernd und prustend durch die
Wohnung. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, schrieb
ich das lustige neue Wort auf einen Zettel, um es nicht zu
vergessen. Einen Lachanfall später schlief ich
tatsächlich wieder ein.
Nach dem Aufwachen ging es, kaum hatte ich im Augenwinkel den Zettel
auf dem Schreibtisch gesehen, erneut los. Beim Zähneputzen
musste ich mich zwingen, an etwas Anderes zu denken: „Nein
nein nein! Ich darf jetzt nicht lachen!“
Träume, die mich zum lachen bringen, mag ich an und
für sich recht gerne. Diesen habe ich diversen Leuten im Hafen
erzählt und ihnen allen eine Freude damit gemacht. Wir waren
uns aber einig, dass ich zu früh aufgewacht bin, denn der
Artikel in meinem Traum-Wikipedia ging sicher noch weiter und
hätte einige Fragen beantworten können: Worin genau
besteht der Erfolg? Und welche Veränderung löst er
aus, so dass das Weibchen einen erfolgreichen Seeerfolgsvogel erkennt
und sich zu ihm hingezogen fühlt? Paula und ich brachen auf zu
einem ersten Ausflug der Saison, um es herauszufinden.
Die Rahmenbedingungen sprachen eindeutig
für einen
Törn in die innere Schlei: Samstag Südost, Sonntag
Südwest, außerdem ist die Brücke in
Lindaunis momentan jederzeit passierbar. Das altersschwache
Klappsegment entpuppte sich im März als unwiderruflich marode
und irreparabel – es steht nun neben der Brücke an
Land. Bis zum Bau einer Behelfsklappbrücke für
Fußgänger und Radfahrer Haben Segler freie Bahn.
Auch wenn der Raps erst kurz vorm Aufblühen stand und die
Felder höchsten blassgelb schimmerten, segelten wir los.
Sich durch Abdeckung, Düsen, gelegentliche
Holeschläge der Missunder Enge zu hangeln, ist immer ein
Leckerbissen – auf den ich drei Jahre verzichtet habe, weil
der Zustand der Brücke eine planmäßige
Rückkehr in Frage stellte. Ausgangs der Enge tut sich
majestätisch die Große Breite auf, im Hintergrund
sieht man die ungleichen Wahrzeichen Schleswigs, den romanischen St.
Petri-Dom aus dem 13. Jahrhundert und den Wikingturm im fiesen Baustil
der 1970er.
In Schleswig war ich schon ewig nicht mehr. Wir segelten bis auf
Höhe Hafen Fahrdorf – von hier kann man alles sehen,
was es wasserseitig zu sehen gibt. Man kann auch alles hören,
was gegen einen längeren Aufenthalt spricht, nämlich
den Verkehrslärm der rings um die Schlei verlaufenden B76. Uns
zog es in eine ruhige Idylle, weswegen ich mir vor dem Auslaufen
eingeprägt hatte, von welcher Fahrwassertonne aus man die
beiden kleinen Häfen von Stexwig sicher ansteuern kann.
Die Saison begann also gleich mit dem Ticken
eines neuen Hafens. Wir
sind mutig über flaches Wasser hingesegelt, eingelaufen, haben
angelegt – und dabei ordentlich im Schlick gekratzt. Das
Echolot verkündete auch anderswo im Hafen nur zwischen 10 und
30 Zentimeter Wasser unterm Kiel. Mit dem nächtlichen
Winddreher auf Südwest erwartete ich ein markantes Ablaufen
und befürchtete, die Stexwiger Woche gebucht zu haben, indem
wir vorläufig nicht mehr rauskämen. Also Segel wieder
hoch und auf nach Fleckeby.
Den Hafen dort kenne ich. Paula hat drei Jahre da gewohnt. Rechts und
links von uns lagen deutlich größere Boote mit mehr
Tiefgang – und das Echolot signalisierte das Gleiche. Diesmal
griff ich zum Bootshaken. Zog ihn komplett aus. Und schaffte den Grund
nicht. Mögliche Erklärung sind die sich bei
Erwärmung vom Grund lösenden Klumpen von
Braunalgenschlubber, die überall herumtrieben – wenn
so einer unter Echolot verharrt, mag es wohl eine phantastisch geringe
Tiefe anzeigen. Womöglich war das auch in Stexwig schon so. In
Stexwig war weit und breit kein Lebewesen zu sehen. In Fahrdorf war der
Schwimmsteg voller Gänsekot. Es war ja noch früh in
der Saison, der Hafen noch gar nicht offiziell geöffnet,
„und schon der erste Gastlieger – toll!“
Wie dem auch sei, wir blieben über Nacht und freuten uns
über den gelungenen Segeltag und eine Fortsetzung beim
Rückweg. Gegen drei in der Nacht drehte der Wind: Leichter
Regen fiel auf die Kuchenbude, und das Fockfall schlug, was mich
genauso zuverlässig weckte wie ein komischer Traum. Seufzend
krauchte ich aus dem Schlafsack und ging an Deck. Paula schwankte. Im
nächsten Moment ergriffen schreiend und flatternd
fünfzehn oder zwanzig Graugänse die Flucht vom
Schwimmsteg, hüpften ins Wasser und retten sich in die
Dunkelheit. "Sorry, Gänsczumhen, ich tu euch doch
nix“, murmelte ich. Band das Fall weg und ging wieder
schlafen.
Kurz vor sieben weckte mich das nächste Geräusch.
Minutenlang vom Dämmerzustand bis zum Öffnen der
Augen klang es wie ein heftiger Regenschauer, doch als ich ein
Stück weiter zu mir kam, erinnerte es mich eher an den
Aufprall von Möwenkacke auf die Kuchenbude – nur
dass die im Überflug kackende Möwe in
Sekundenbruchteilen weiterflöge, das Geräusch jedoch
endlos weiterging. Ich beschloss nachzusehen.
Im Cockpit sah ich – es war schwer zu glauben –
einen Vogel gegen das Fenster der Kuchenbude fliegen. Ornithologen sind
gefragt: Der Birdie war kaum größer als ein Spatz,
mit graublauem Gefieder auf der Oberseite, die ich einzig sehen konnte.
Mein Tipp: Eine Blaumeise.
Wie war die überhaupt reingekommen? Die
Kuchenbude war ringsum
zu, aber unter der Pinne ist eine kleine Öffnung, die sich
nicht verschließen lässt. Bestimmt war der Kleine
dort auf der Suche nach einem schönen Nistplatz reingehopst,
dann auf der frischlackierten Schräge der
Cockpitrückseite abgerutscht und auf der Ruderbank
aufgeprallt. Das Fenster lockte mit freier Sicht auf Himmel,
Bäume und Artgenossen – doch trotz heftiger
Flügelschläge und großer Ausdauer ging es
keinen Millimeter voran. Und jetzt näherte sich auch noch die
bedrohliche Silhouette eines bedrohlichen Menschen.
Die Anstrengung war zu doll. Das Vögelchen suchte Schutz
unterm Achterdeck. Ich konnte sehen, wie es nach Luft schnappte und
versuchte, sich zu erholen und neue Kraft zu sammeln. Es war
völlig klar, ich musste den Seitenausstieg öffnen, um
einen Ausgang zu schaffen.
Der vordere Reißverschluss war einfach. Aber er reichte
nicht. Für den hinteren Reißverschluss
rückte ich dem verängstigten Vogel so nah auf die
Pelle, dass er hinter meinem Rücken flüchtete
– als ich ihn wiederfand, war er in der Kajüte
(!!!!) und flatterte schon wieder mit all seiner Kraft frenetisch gegen
das Fenster!!!!! Der Fluchtweg war frei, doch es war nichts gewonnen,
denn von da drin war es noch viel schwieriger, den Ausweg zu finden.
Ich guckte mir mitleidig das Geflatter an. Überlegt mit den
Vogel zu schnappen und rauszuwerfen und entschied mich dagegen aus
Angst, ihm die Flügel zu brechen. Plötzlich
rührte er sich nicht mehr. Viel einfach runter in irgendeiner
Ecke hinter die Kisten auf der Koje, die meinen Hausstand beherbergen.
„Ich glaub, er ist tot“, murmelte ich und dachte an
einen Herzinfarkt. Ich sah ihn da liegen in seiner schwer erreichbaren
Ecke, zog mich ins Cockpit zurück und drehte mir erstmal eine
Kippe.
Einmal wach, entschloss ich mich zu baldigem Auslaufen. Zuvor wollte
ich zumindest Kaffee trinken – doch der Vogel lag unter dem
Wasserkocher. So oder so, er musste weg, in meinem Interesse so sehr
wie in seinem eigenen. Wie ging es ihm überhaupt? Ich guckte
nochmal in die Ecke. Kein Vogel zu sehen.
Ich nahm die Taschenlampe, leuchtete jeden Winkel ab, über und
unter der Koje. Wurde allmählich ungeduldig – auf
YouTube sind die Tiere immer so schön kooperativ, wenn sie vom
Menschen gerettet und gefilmt werden. Doch ich hielt ihn ja sowieso
für tot und hatte das Kehrblech schon in der Hand. Ich
stapelte Sachen ab: Strickpullover, Regenjacke, ein paar
Bücher. Als ich die Ölhose bewegte, schoss er wie
eine Rakete aus seinem Versteck zurück ins Cockpit, wo er im
zweiten Anlauf tatsächlich die Öffnung fand und
verschwand. Seufzend setzte ich Kaffeewasser auf.
Während ich das Heißgetränk genoss,
beobachtete ich ein Möwenpaar beim Paarungsakt: Sie auf dem
Schwimmsteg sitzend und gelegentlich einen klaren, hellen Ton
ausstoßend. Er über ihr flatternd, um die Balance zu
halten, und er hatte offensichtlich eine Menge zu erzählen,
schnatterte und kreischte in einer Tour. Als es vollbracht war, sprang
er stolz ins Wasser, schwamm eine Runde und wusch sein Gefieder. Das
Weibchen hüpfte auf einen Poller und sonnte sich.
Östlich der Missunder Enge war der Wind
schwach genug
für recht meditatives Segeln. Plötzlich war alles
klar, das Rätsel des Seeerfolgsvogels gelöst.
Zweifellos hatte ich einen solchen an Bord: Im Hafen ist weit genug auf
See für einen Landvogel wie die Blaumeise. Dort begibt der
Seeerfolgsvogel in Gefahr, denn er muss ein Abenteuer erleben. Er
hüpft beispielsweise unter eine Kuchenbude, stellt entsetzt
fest, dass es entgegen seiner bisherigen Erfahrung keinen Ausweg gibt,
dann nähert sich auch noch in all seiner Bedrohlichkeit ein
riesiges, bedrohliches Raubtier.
Die Nahtoderfahrung und der damit verbundene Adrenalinstoß
verändern ihn: Das Gefieder verfärbt sich leicht, und
fortan wird er anders als bisher die Brust rausschieben und den Kopf
allenfalls zum Picken senken. Dem Weibchen fällt das sofort
auf. Und es weiß, dass er ihr bei der Paarung in den
höchsten Tönen eine bunt ausgeschmückte und
höchst unterhaltsame Version seiner Heldentat
erzählen wird.
Das ist durchaus wichtig für die Erhaltung der Art.
Vögel haben ja heutzutage das Problem, vielerorts innerhalb
der menschlichen Zivilisation zu leben und zu nisten und auf Probleme
und Hindernisse zu stoßen, auf die sie ihre althergebrachten
Instinkte kaum vorbereiten. Der Seeerfolgsvogel ist ein
Entdeckungsreisender. Sein Abenteuer bringt ihm wertvolle Erfahrungen,
und sofern er es überlebt, kann er sie an seinen Nachwuchs
weitergeben. Wie jämmerlich und mitleiderregend dies in der
Praxis abläuft, durfte ich aus nächster Nähe
miterleben.
*
Eine Woche später: Geplant war ein
Besuch bei Freunden in
Mönkeberg. Zum Glück habe ich dort nicht angerufen,
um zu fragen, ob die überhaupt zuhause sind, denn gestern war
es utopisch. Mit einem Abstecher nach Maasholm haben wir es
dümpelnd, treibend und kreuzend gerade so nach
Schleimünde geschafft. Dort Lord Jim, Frieda und Martha
getroffen. Heute wollten wir doch zumindest nachsehen, wie die Ostsee
den Winter überstanden hat. Eine Runde komplett ums
Sperrgebiet ist schon zu ambitioniert, an Tonne 6 kehren wir um. Um
zehn vor sind wir zurück am Leuchtturm, schaffen gegen die
Strömung knapp drei Knoten, das Timing für die
Brücke scheint desaströs – doch wir werden
die knapp zwei Stunden, die wir jetzt zur Verfügung haben,
auch brauchen.
Bis Rabelsund segeln wir einfach geradeaus. Nicht weit vor uns sind
Frieda und Martha. Im Fahrwasserknick dreht der Wind mit. In
Grauhöft bleiben Frieda und Martha stehen. Der Aufkommer hat
den Vorteil, dass er sich auf die Probleme, mit denen die anderen
hadern, in Ruhe vorbereiten kann, denn er wird sie gleich auch
bekommen. Wann immer ich fürchte, endgültig in der
Strömung zurückzutreiben, kommt gleich wieder ein
Brischen hierher oder dorther oder je nach dem, welchem Ufer wir
näher sind, und so schaffen wir es zur Brücke. Ein
Kringel und zehn Minuten beiliegen, dann schiebt uns der
Außenborder durch. Wir warten, bis die Motorenden
weggetuckert sind, dann beginnen die drei Folkeboote die gemeinsame
Kreuz.
Wäre ich jetzt mit Paula und den Teddys allein und wollte nur
schnell nach Hause, wäre ich genervt. In Begleitung der
jollenerprobten Chartercrews, die jede Minute ihrer Buchung auskosten
und genießen wollen, freue ich mich auf die kurzweiligen
eineinhalb Stunden, die wir für die letzte Meile brauchen
werden. Und ich werde nicht enttäuscht.
Kreuzen ohne Kursänderung –
wenn die Fock backsteht,
einfach überholen und weiterfahren. Manchmal bin ich nicht
sicher, ob es eine Wende oder Halse ist. Der Verklicker zeigt nach
Osten, wir segeln mit Westwind, oder jetzt nicht mehr, aber gleich
wieder. Den Schlag schön lange auszufahren, führt
automatisch ins falsche Windfeld und nach der Wende dorthin
zurück, wo wir eben schon waren. „Der Ausflug war
blöd, der hat Zeit gekostet“, rufe ich. Paula reiht
sich hinter Frieda ein.
Zwanzig Meter auf der falschen Seite der grünen Tonne vor
Kopperby sind wir gleichauf. „Bei uns ist
Stromausfall“, gebe ich zu – Paulas Batterie hat
sich heute nach fünf Dienstjahren in den Ruhestand
verabschiedet. Kein Echolot also – Timo findet es
allmählich zu flach und wendet. Ich habe hier genug
ausgelotet, um zu wissen, dass wir vorerst sicher sind. Die Brise dreht
von Süd auf Nordost. „Wir segeln dann mal halbwinds
ins tiefe Wasser zurück“, gebe ich der ab- und
zurückfallenden Frieda mit auf den Weg. Martha ist da noch
zwischen den Heringsnetzen gefangen.
Einmal kommt Frieda noch auf. Dann setzt sich
neben meiner
Revierkenntnis vor allem durch, dass ich bei dem chaotisch von Ost auf
West und zurück wechselnden Wind schlicht die Ruhe behalte,
das Groß stehen lasse, den Kurs beibehalte und nur bei Bedarf
die Fock überhole. In der Rinne zum Hafen haben wir
dankenswerterweise stetige drei Beaufort gegenan. Es ist aber
schön zu sehen, dass Charterer, die vor drei Tagen noch einen
Trainingstag brauchten, damit ich sie mit dem Boot vertraut mache, dies
hier ohne Zögern und ohne Grundberührung aufkreuzen.
Der Südwind bringt uns zum Mastenkran. Bevor ich das
Großsegel berge, weht im ganzen Hafen Ostwind.
Seeerfolgsvogel? Heute haben jedenfalls wir durchaus erfolgreich
riesigen Spaß gehabt. Es müssen nicht immer
dreißig Seemeilen sein, manchmal reichen drei. Oder sechs.
Oder die fünfzehn, die es heute gewesen sein mögen.
Am Ende eines frühlinghaft warmen Tages ist es schon wieder
eher kühl – und dennoch ist der Saisonstart
überaus gelungen.
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