Paulas Törnberichte | ||||||
Der
Frühling, der aus der Kälte kam
Stefan und Annika hatten sich diesen Freitag anders vorgestellt: Vor
dem Flottillentörn hatten sie einen Trainingstag gebucht, um
das Boot kennenzulernen und sich als Crew einzuspielen. Bei Ost 7-8 ist
schon an Ablegen nicht zu denken, stattdessen unternehmen wir einen
Ausflug nach Olpenitz. Drei Meter hohe Wellen brechen sich schon weit
draußen. Direkt vor der Haustür von
Schleimünde ist das Wasser quietschgelb – das ist
der Sand, den die Grundsee aufwirbelt. Wir sind uns einig: Segeln bei
diesen Bedingungen eher nicht.
Mai 2023
Gleichzeitig
erkunde ich Port Olpenitz zum ersten Mal ausgiebig von der Landseite
her. Das ganze Konzept stellt sich so noch grässlicher dar,
als wenn man es von Schleimünde aus betrachtet oder eine
Hafenrundfahrt segelt: Pure Vereinzelung, dichtestmögliche
Bebauung ohne jegliche Abstandsflächen.
Grünflächen, die das Ensemble auflockern und zum
Verweilen und Begegnen einladen? Die womöglich
architektonische Gegensätze in ein Ganzes einbetten? Kioske,
Cafés, Boutiquen? Nein nein, jede noch so kleine
Fläche wird für ein weiteres überteuertes
Ferienhaus genutzt. Gästen – wie etwa den Bewohnern
der Umgebung – wird unmissverständlich suggeriert,
dass sie hier nicht gewünscht sind. Ein Bezug zur Region und
ihrer Historie wird allenfalls hergestellt, indem die Namen der
Ferienwohnungen die Silbe -nord- enthalten. Oder indem neben dem
Eingang ein Anker, ein altes Fischernetz oder sonstwelcher maritimer
Müll liegt. Einzelne Grundstücke auf der Nordmole
sind noch nicht verkauft, nur deshalb gibt es überhaupt einen
Zugang zum Wasser, von wo aus sich der Sturm in voller Aktion
beobachten lässt.
Genug von Olpenitz. Wer hier Urlaub macht, ist selber schuld. Am
Samstag sind alle vier Crews eingetroffen, und wir versuchen uns an der
Einweisung. Es nieselt, es pustet, zwar mit einer Windstärke
weniger als gestern, aber da schien wenigstens die Sonne. Ich laufe in
meiner dicken Daunenjacke durch den Hafen. Für den ersten Teil
der Einweisung verkriechen wir uns in den geheizten Clubraum. Alles
Neukunden, durchaus mit Segelerfahrung, aber hauptsächlich als
Mitsegler auf großen Ausbildungsyachten – es wird
sich zeigen, dass alle ihren „Stiefel“ haben, den
ich ihnen ausziehen muss. Also gewohnheitsmäßige
Abläufe, von denen sie sich schwer lösen
können, die aber auf einem Folkeboot nicht funktionieren und
auch insgesamt keine wirkliche Berechtigung haben. Immerhin sind alle
wissbegierig und stellen die richtigen Fragen.
Es lässt sich dann aber nicht vermeiden, dass wir dem Wetter
trotzen und uns die Handgriffe zur Bedienung des Motors und der Segel
vor Ort angucken. Wir wählen Martha – sie liegt am
Stegkopf längsseits an einem schmalen Fingersteg. Dort
können alle vom Steg aus zugucken, während ich an
Bord zeige, was es zu zeigen gibt, ohne dass wir uns ständig
gegenseitig im Weg stehen. Nebenan schickt sich der Eigner einer
schraddeligen Yacht an, seinen Mast zu stellen. Ich weiß,
dass der Hafenmeister ihm gesagt hat, dass die Anlage bei mehr als vier
Windstärken gesperrt hat und er ohne Versicherungsschutz
handelt, doch seine – unbedarften, unkompetenten –
Helfer reisen morgen ab.
Der Außenborder ist fertig besprochen, vorgeführt
und von allen ausprobiert. Ich stehe auf dem Vorschiff und verliere
einige allgemeine Worte über die Segel, als der schwere
Holzmast – eigentlich wie erwartet – auf uns zu
kippt. Der Vorgang dauert nur zwei, drei Sekunden, doch wer solche
Situationen kennt, weiß, wir unfassbar langsam
plötzlich die Zeit zu vergehen scheint: Es bleibt ausgiebig
Zeit, über die geringen Überlebenschancen
nachzudenken, falls das Ding einen trifft. Gleichzeitig besteht keine
Fluchtmöglichkeit: Nüchtern betrachtet, wohin? Doch
in der Situation ist man wie angewurzelt, zu keiner Regung
fähig, Hoffnung und Aufgeben fallen in eins.
Ich konnte gleichwohl frühzeitig sehen, dass der kippende Mast
weder Marthas Deck durchschlagen noch mich er-schlagen, sondern den
Steg treffen würde, und dort prallte er auf, ohne die
Gäste zu erreichen. Wie gut, dass ich Martha nicht ganz bis
zum Ende in die Box gezogen hatte, sondern nur so weit, dass das Heck
nicht zwischen den Pfählen durchragte. Einer der Helfer des
Schuldigen fiel bei der Aktion ins Wasser, das Profilvorstag war
Schrott, und der Mast musste später erneut angehoben werden,
um ihn wieder an Land transportieren zu können –
meine Einweisung litt unter all diesen Ablenkungen. Um nicht den Tag
komplett mit Traumabewältigung zu verbringen, es war ja gut
ausgegangen, setzte ich gnadenlos die Einweisung fort. Dann verkrochen
wir uns ins Warme.
Dort zerbrach ich mir den Kopf über eine sinnvolle
Wochenplanung – nach diesem entsetzlichen Start wollte ich
den Gästen ja neben Lektionen auch schöne
Segelerlebnisse bieten. Was sich in den Prognosen von Windfinder und
DMI schon abzeichnete, bewahrheitete sich schließlich: Bis
Mittwoch war bei Südost 5-6 an ein Auslaufen aus der Schlei
nicht zu denken, gelegentliche günstige Zeitfenster
hätten zu einem Anlegen in Marstal oder Sønderborg
bei siebener Böen geführt. Es war eine seltene
Wetterlage: Ein Hoch über Südskandinavien, ein Tief
über der Nordsee, und ein Jetstream, der über
Schleswig-Holstein und Jütland in Süd-Nord-Richtung
strömte und verhinderte, dass die Fronten des Tiefs das Hoch
übermangeln. Es blieb einfach über der Nordsee
hängen, schwächte sich langsam, aber wirklich sehr
langsam ab, und weil die Druckgebilde so dicht beieinander lagen, war
der Gradient enorm groß und der Wind so beständig
pustig.
Am Mittwoch wanderte das Hoch ein Stück ostwärts, das
Tief gelangte zu uns, der Wind drehte auf Südwest und schlief
ein, dazu regnete es. Am Donnerstag schwächte das Tief sich
an, die sich auflösende Front schwenkte wieder zurück
zur Nordsee, das Hoch breitete sich nachfolgend aus, und schon hatten
wir wieder Ostenwind, allerdings in erträglicher Form.
Dies alles war so noch nicht absehbar, als wir beschlossen: Wenn Ostsee
nicht geht, segeln wir in die andere Richtung –
schleieinwärts. Brücke Lindaunis jederzeit
passierbar, Raps in voller Blüte – wann, wenn nicht
jetzt? Sonntag schien die Sonne, Ost bis Südost 5-6, morgens
um acht los, bevor es mittags womöglich wieder aufbrist. Es
entfaltete sich ein wunderschöner, abwechslungs- und
lehrreicher Segeltag mit desaströsem Ab- und Anlegen
– aber die Gäste sollten ja auch etwas lernen.
Fleckeby war zuletzt vor drei Jahren die Zuflucht eines
Flottillentörns, als es im Anschluss an den ersten Lockdown
noch nicht erlaubt war, nach Dänemark einzureisen. Das
damalige Hafenmeisterpaar bestach durch offensiv zur Schau getragene
Faulheit („Hafenbüro ist aber jetzt geschlossen.
Irgendwann muss ja auch mal Schluss sein, wir haben ja
schließlich auch noch vier Hektar Land zu bewirtschaften,
ne?“). Die wurden seitdem gekündigt, auch die in
Ostwestfalen ansässigen Eigentümer waren wohl genervt
von ihrem Personal. Das neue Paar ist freundlicher und emsiger,
allerdings werden auch sie nur für dreißig Minuten
nachmittäglicher Kassenzeit bezahlt. Und es gibt eine Neuerung
unter dem Motto „Digitalisierung falsch gemacht.“
Der Hafen hat nämlich jetzt einen Automaten. Nein nein, keinen
Hafengeldautomaten, das kann man dort keineswegs bezahlen. Am Automaten
kauft man eine Magnetkarte, die als Türöffner
für die Toiletten und Duschen dient. Er nimmt keine EC-Karten,
nur Bargeld, und er gibt kein Wechselgeld. Die Hafenkarte kostet zehn
Euro Pfand, und man kann ein zusätzliches Guthaben aufladen
für Dusche und Landstrom. Das erste Problem ist aber: Der
Automat befindet sich jenseits jener Tür, die sich nur mit der
Hafenkarte öffnen lässt.
Das muss man erstmal sacken lassen. Ich war darauf gebrieft von dem
sehr netten Mann, der Paulas Vorleinen annahm und selbst einsah, dass
ich das Anlegen auch ohne seine tapfere Unterstützung
geschafft hatte. Es war aber ein sehr angenehmes Gespräch, in
dessen Verlauf sich die Chartergäste auch allmählich
an den Hafen heranwagten. Später musste ich mit anderen
Einheimischen eine Viertelstunde diskutieren, bis sie den Grund
begriffen, aus dem ich mir kurz ihre blöde Hafenkarte
ausleihen wollte.
Am Nachmittag gesellte sich eine junge Frau zu uns und sagte so etwas
wie: „Seid ihr das mit den schönen Holzbooten? Ja
– was macht ihr denn hier? Macht ihr Kaffepause, oder wie?
Oder wollt ihr etwa übernachten? Weil: Wenn ihr
übernachten wollte, dann würde ich euch bitten, dass
ihr JETZT, also mein Mann macht nämlich JETZT das
Hafenbüro auf, und ich möchte, dass ihr JETZT dorthin
geht und JETZT das Hafengeld bezahlt.“
Sie blieb durchaus freundlich dabei und hatte ja durchaus Recht
– eine halbe Stunde ist nicht sehr lang. Im
Hafenbüro bei ihrem wirklich liebenswerten Gatten
löste sich das Rätsel, wie wir das Pfand und etwaiges
unverbrauchtes Guthaben erstattet bekommen würden: Auf die
umständlichst mögliche Weise. Wir bekamen
nämlich einen Gefrierbeutel und ein Formular im
Postkartenformat. Das Formular war auszufüllen und zusammen
mit der Hafenkarte in den Gefrierbeutel zu stecken und beides bei
Abreise in den Briefkasten zu werfen, und in dem Formular wurde alles
abgefragt außer Schuhgröße und Vorstrafen,
aber zumindest Name, Postadresse, Telefonnummer und Mailadresse. Was in
Zeiten der EU-Datenschutzverordnung schmerzlich fehlte, war ein
Hinweis, wofür diese Daten verwendet, wie sie gespeichert und
wann sie wieder gelöscht würden.
Kern des Ganzen natürlich: Die Bankverbindung. Denn Pfand und
Guthaben gibt es per Überweisung zurück.
Natürlich ist die vorgedruckte Zeile zu kurz, um eine
vollständige IBAN sauber einzutragen – am Anfang ab
ich mir alle Mühe um Leserlichkeit, hinten raus musste ich die
Ziffern stauchen. Ich sollte mal kontrollieren, ob das Geld inzwischen
gutgeschrieben ist.
Fleckeby also – immer ein Riesenspaß. Am Montag
ließ die Prognose für unser Ziel Maasholm vermuten:
Je später wir dort ankommen, desto geringer die Böen.
Also ließen wir uns Zeit – und verbrachten den
Vormittag mit einem Trainingsprogamm: Martha und ich liefen zweimal mit
wechselnden Gästen uns und zeigten Leinenarbeit, Hangeln an
den Pfählen, Ausnutzen des Windes vor Topp und Takel, Steuern
mit dem Außenborder und langsame Fahrt im Hafen ohne Verlust
der Ruderwirkung.
Als wir dann ablegten, waren außerhalb der Abdeckung auf der
Großen Breite noch sechs Windstärken. Salty betrieb
in der Missunder Enge Landvermessung, vor den Brücken zeigten
die Außenborder, dass sie, wenn an dem Tag schon gelaufen,
verdammt nochmal nicht mit Choke gestartert werden wollten. In
Grauhöft folgte die nächste Landvermessung, diesmal
war es Oliese, die eine Pause bekam. Paula und Martha lagen da schon in
Maasholm, ich plauderte eine halbe Stunde lang mit Bremen Rescue, bis
die Position stimmte, und als das Freiwilligenboot zum Freischleppen
auslief, bekam ich die Nachricht, dass Oliese wieder schwamm. Am
nächsten Morgen fand der zum Dank für die
Seenotretter gekaufte Kuchen leider nur mich als Abnehmer –
die Station ist außerhalb von Alarmierungen nicht besetzt.
Dienstag – Südost 5-6, Sonne, Hafentag, Spaziergang
zum Strand. Dazu die leise Hoffnung, dass der Wind schon am
frühen Mittwochnachmittag auf Südwest drehen und
abnehmen, aber noch für drei, vier Stunden halten
würde – dann wären wir nach Marstal
gesegelt.
Mittwoch – Südost 5-6, Sonne, später
aufziehende Wolken und ein nicht mehr ganz so kühner Plan:
Auslaufen um sechzehn Uhr mit Ziel Schleimünde. Im Regen und
ohne Wind trieben wir mit der Strömung die zwei Meilen in
einer Stunde. Wer sich auf die Ostsee wagte, wurde vom Geschaukel in
der Dünung böse enttäuscht. Doch als der
Regen abzog, wurde es zumindest ein gelungener Abend, und davor
spielten wir ein wenig mit den Booten, indem wir sie
rückwärts in die Folkebootecke einparkten.
Päckchenliegen im fast leeren Hafen ist zwar nicht zwingend
notwendig, aber ich fand es ein gutes Übungsprogramm, wenn der
Segeltag schon eher misslungen war.
Frieda hatte uns schon verlassen, war auf dem Weg von Fleckeby nach
Maasholm in Arnis abgebogen – der Mitseglerin behagte die
Schräglage nicht. Saltys Gäste mussten wegen einer
Familienangelegenheit schon Donnerstag abreisen. Die Abreise wurde so
zu einem verfrühten Thema – dabei ging der
Törn doch jetzt erst richtig los. Denn Donnerstag kamen wir
bei schwachem Nordwind endlich aus der Schlei.
Wo allerdings sollten wir noch groß hin? Zu erwarten war ein
Dreher auf Nordost, deshalb war zum Beispiel Marstal keine Option, der
Rest Dänemarks sowieso nicht. Also nach Damp? Oder nach einer
Runde ums Sperrgebiet zurück nach Schleimünde? Ich
fand, wir sollten den schönen Ostwind am Freitag angemessen
nutzen, und irgendwelche Spaßrunden zurück zum
Ausgangspunkt wirken immer etwas aufgesetzt. Beim
Frühstück kam mir das perfekte Ziel in den Sinn:
Eckernförde.
Der Hinweg war bei um die drei Knoten Fahrt gemächlich,
beinahe meditativ. Auf dem Rückweg durften wir die komplette
Eckernförder Bucht aufkreuzen, stetige vier
Windstärken hielten bis kurz vor Olpenitz. Mit dem Nachlassen
des Windes und der Rückkehr in die Schlei wurde es endlich
frühlingshaft warm – es war wirklich kein Vergleich
mehr zum Beginn der Woche.
Vier prächtige Segeltage, zwei komplette Hafentage sowie ein
Streichresultat ohne Wind bei Nieselregen – angesichts der
Wetterlage ist das gar keine so schlechte Bilanz. Es ist der erste
Flottillentörn, der es nicht nach Dänemark geschafft
hat (mit Ausnahme einer Woche im ersten Coronajahr, als die Grenze
geschlossen war). Immerhin die Ostsee haben wir geschafft. Die
Eröffnung der Badesaison war unfreiwillig (beim Ablegen in
Eckernförde), ansonsten waren die Gäste hochzufrieden
mit dem Gelernten und Erlebten.
*
Nun denn: Frühling, Sonne, zwanzig Grad, dazu ein
schöner Ostwind von 3-4 Windstärken – es
ist ein bisschen schade, dass ich für die
anschließende Woche keine einzige Anfrage hatte, und somit
auch keine Buchung. Ich habe also das Wochenende frei. Und so habe ich
endlich einmal Zeit, ein Versprechen aus dem letzten Jahr
einzulösen: Frieda und ich lassen uns von der
zwölfjährigen Hannah über die Schlei
schippern. Sie ist gerade vom Opti auf die Zest umgestiegen und damit
bestens präpariert fürs Folkeboot. Drei Stunden lang
geht sie Ruder, ich übernehme erst für den
Aufschießer im Hafen. Wir sind ja nicht zum Motorbootfahren
hier.
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