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Hunderachtzig Meilen Gegenwind (Sommerreise Teil 3)

Passender Wind von morgens bis abends, man schleicht sich früh aus dem Hafen, genießt in wachsender Euphorie die Rauschefahrt, es geht so super voran, dass gar keine Zeit bleibt, müde zu werden, und wenn man nachmittags anlegt, hat man richtig viel Strecke geschafft – ihr kennt alle solche glorreichen Segeltage.

So einen hatten wir einmal auch...

Juli 2023

Die Prognose war ein Desaster: Ich befürchtete, die komplette Strecke von Simrishamn nach Svendborg aufkreuzen zu müssen, und zwar an den wenigen Tagen, an denen sich der Gegenwind in vertretbarem Rahmen hielt. Zwischendurch war ich mir nicht mehr sicher, ob wir es rechtzeitig schaffen würden, konnte um zwei Uhr nicht mehr schlafen, studierte wieder und wieder den Wetterbericht und grübelte über der Seekarte, bis ich eine Alternative zu einem langen Schlag nach Møn oder Sjælland fand und mich ein wenig beruhigte. Die vielen windbedingten Hafentage sorgten dafür, dass wir unsere Kräfte einteilen und regenerieren konnten – und wir verbrachten sie an wundervollen Orten, die den Aufenthalt wirklich wert waren.

In der zweiten Woche gingen uns die Reservetage aber allmählich aus. Es durfte jetzt wirklich nichts mehr schiefgehen. Doch der vorletzte Reisetag hielt nicht nur, was er versprach, es lief sogar noch viel besser als in unerschütterlichem Optimismus erhofft: Vordingborg-Lohals, 44 Meilen, ein Viertel der Gesamtstrecke in einem einzigen Tag. Am letzten Tag wurden sogar die verstaubten Fockausbaumer aus der Vorpiek gezerrt. So wurde es eine Reise voller Eindrücke und Erlebnisse entlang einer völlig unterbewerteten Strecke.

Samstag: Wir liegen in Simrishamn, die Gäste reisen an. Ab Ystad ist Schienenersatzverkehr, der Bus steht im Stau – in Kivik ist Jahrmarkt. Ich werde bombardiert mit SMS und Mails besorgter Charterer, die befürchten, mit ihrer Verspätung die ganze Gruppe aufzuhalten. Alles Neukunden: Sie haben meine Törnberichte gelesen, aber wir kennen einander noch nicht, sie haben neben reichlich Vorfreude nur eine vage Vorstellung, was sie erwartet und wie das bei uns läuft. Das ist hochgradig spannend, aber im Stau kann es auf die Stimmung drücken. Ich antworte eilig mit beruhigenden Worten: Ich bin ja hier und erwarte euch! Frieda wartet ein bisschen länger: Bernd muss Montag noch arbeiten, er und sein Sohn Knud kommen also erst Dienstag und hoffen uns dann noch einzuholen. Als ansonsten alle da sind, entspannen wir uns erstmal

Sonntag: Einweisung. Gleich wird klar, dass es keine Segelneulinge sind – das Gegenteil ist der Fall: Hannes segelt in der zweiten schweizerischen Segelliga, Simone bringt vor allem große Begeisterung mit, und sie sind ein eingespieltes Team. Susanne und Andreas haben neben reichlich sonstiger Erfahrung, vorwiegend auf der Elbe, schon mehrfach in Flensburg und Maasholm Folkeboote gechartert. Nun sind die dem Charme unserer Sommerreisen (und der Empfehlung von Susanne / Folkeboot Louise) erlegen. Es ist eine Gruppe, auf die ich mich seglerisch verlassen kann. Es wird aber auch gleich transparent: Die wollen gar nicht nur segeln, jeden Tag von morgens bis abends! Sie möchten Skåne und das Smålands Fahrwasser kennenlernen, erleben, entdecken, erkunden, und gerne auch mal an einen schönen Strand. Die vielen Hafentage, die uns bevorstehen, sind also kein Verlust.

Eigentlich würden alle gerne noch eine Spaßrunde vor der Haustür segeln, doch bei der Segeleinweisung faucht der erste Drücker durch den Hafen. Das Setzen und Bergen des Großsegels simulieren wir mit einer Wurfleine, das Segel bleibt unten und das Boot am Steg. Montag gehen wir es an: Wir treiben und kreuzen die sechs Meilen nach Skillinge. Ohne Wind gegen die Strömung Höhe zu laufen, ist eine undankbare Aufgabe, doch zwei Schauerböen bringen uns voran. Es verbleibt ein Brischen, als es aufklart, und wir erreichen gut gelaunt unser Ziel. Denn wir sind gesegelt!

Dienstag pustet es wie hulle, wir machen Hafentag. Der unscheinbare Ort entpuppt sich als Juwel: Die gepflegten Gärten sind trotz Trockenheit schön anzusehen, und die Gäste unternehmen einen Ausflug zum Sandstrand von Sandhammaren. Ich bin kein Strandgänger, sondern Bademuffel, und habe eine Abneigung gegen feinen Sand in den Haaren und sämtlichen Klamotten, außerdem gibt es Büroarbeit zu erledigen. Ich bleibe also im Hafen – und habe etwas verpasst. Fast niemand fährt freiwillig die Küste von Skånen entlang, und jetzt stellt sich heraus: Völlig zu Unrecht. Es gibt reizvolle und sehenswerte Orte hier, und wir haben die Chance, einige von ihnen zu erkunden.

Gleichwohl sind wir ja zum Segeln hier, und das kam bisher ein wenig zu kurz. Sechs Meilen in vier Stunden ist ja schon eine schwache Bilanz, aber genau genommen waren es sechs Meilen in vier Tagen! Gleichzeitig finde ich diesen Beginn durchaus gelungen: Wir haben uns – auch, aber nicht nur, dem Wind geschuldet – Zeit gelassen für Einweisung, Ankommen, Kennenlernen, Erholen von der Anreise. Hundertachtzig Meilen sind ja auch nicht viel für zwei Wochen – es entspricht einem Schnitt von fünfzehn Meilen pro Tag. Nur sehe ich in der Prognose immer nur West und immer nur dann Böen sechs, wenn es keine siebener Böen sind. Ein Hoffnungsschimmer hier und da – der sich mit dem nächsten Update gleich wieder erledigt. Jeder Hafentag bedeutet dreißig Meilen an einem anderen – und gegenan sind schon zehn, fünfzehn Meilen ein Kraftakt.

Mittwoch: Oli, Martha und Paula laufen um fünf Uhr aus Skillinge aus. Es ist überhaupt kein Wind. Von Norden her – aus Simrishamn – kommt eine ganze Armada auf, erreicht das Flautenfeld und startet den Diesel. Erneut brauchen wir fast vier Stunden für die ersten sechs Meilen. Zwischendurch regnet es. Mal kommt Wind auf, dann flaut er wieder ab. Mal zeigt sich vor uns Gekräusel, doch es folgt die Enttäuschung, als wir es endlich erreichen und statt vorher 1,4 Knoten auch nur 1,9 Knoten schaffen. Erst ab der Ecke bei Sandhammaren entfaltet sich eine stetige Brise. Wir segeln einen guten Holeschlag nach Südwesten, dann wenden wir. Bornholm ist in Sicht, die blöde Insel, zu der ich schon so häufig hinwollte und nie hinkam, existiert also wirklich. Wir machen aber jetzt bestimmt nicht den Fehler, zwanzig Meilen nach Osten zu segeln.

Der Westwind dreht südlicher und noch ein bisschen südlicher, und wir können Ystad beinahe anlegen. Nur wollen wir hier gar nicht hin, sondern wenn es irgendwie geht sieben Meilen weiter nach Abbekås. Es hängt nicht unser Leben davon ab, dass wir das schaffen, aber es wäre schon hilfreich für den weiteren Verlauf. Im Vorbeisegeln stelle ich fest: In Kåseberga hätte es uns allen sehr gut gefallen! Der winzige Ort ist umgeben von einer skurrilen Steilküstenlandschaft: Gras, hier und da ein einzelner, tapferer Baum, obendrauf ein vom Wasser aus erkennbarer Steinkreis aus der Wikingerzeit.

Paula läuft nicht die Höhe, die Martha schafft. Oliese saust vor uns davon. Das ist neu und ungewohnt. Ich finde das gut – für mein Ego brauche ich es nicht, stets schneller als die Chartergäste zu sein, sondern dies hier spricht für sie und für den Zustand der Boote. Sie haben aber mitgebucht oder jedenfalls versprochen bekommen, dass ich für sie den Zielhafen auskundschafte und ihnen beim Anlegen helfe – es wäre schlecht, wenn sie darauf stundenlang warten müssten. Als vor Ystad per Funk die Frage diskutiert wird, ob wir dort anlegen oder weitersegeln, ist Paula so weit zurück, dass ich im Rauschen kaum ein Wort verstehe. „Weitersegeln“, propagiere ich.

Prompt dreht der Wind ungünstig und lässt ein wenig nach. Doch nach Ystad? Ha! Ich erkenne, dass weiter draußen mehr Wind ist als direkt unter Land – man muss unter dem Wolkenband bleiben, wenn man schnell sein will. Wir schaffen es in nochmal drei Stunden, die sieben Meilen aufzukreuzen. Die drei Boote erreichen gleichzeitig den überaus sympathischen Hafen.

Das gemeinsame Anlegebier aus Marthas Bilge entwickelt sich zur festen Institution. In elf Stunden auf dem Wasser ist eine Menge passiert, wir haben uns viel zu erzählen. Frieda hat den Segeltag unterdessen in Kåseberga beendet – wir sind fast ein bisschen neidisch. Für den nächsten Tag nehmen wir uns nicht zu viel vor: Zehn Meilen bis Smygehamn, Auslaufen gegen neun. Es ist aber eine Kreuz, und zwar bei 5 Böen 6. Paula legt zuerst ab, um den Anderen Platz zum Drehen zu geben. Daran liegt es aber nicht, dass wir Schlag um Schlag davonsegeln: Paula findet die Bedingungen richtig großartig, fliegt beinahe durchs Gekabbel. Mit Feintrimm am Traveller gelingt es, dass sie auf Backbordbug genauso schnell ist wie auf Steuerbordburg, obwohl die Welle nicht in Windrichtung kommt und sie seit Jahren oder immer schon mit Wind von Backbord schneller ist. Kaum Ruderdruck, fliegende Gischt, unser Ziel ist in Sicht und kommt näher und näher, während Martha und Oli zurückfallen – ich genieße es zutiefst.

Zuletzt nimmt der Wind eine Spur ab, was sehr willkommen ist hinsichtlich des Anlegens. Schauer ziehen südlich und nördlich vorbei und lassen uns in Ruhe. Vor dem letzten Holeschlag segelt Paula auf den Strand zu, und ich frage mich, wie weit man da ran kann – in der Seekarte wird vor großen Steinen gewarnt. Eine Hallberg Rassy 57 (!) motort vor uns durch. Ich denke: Wo die durchkommen, passt es auch für uns. Außerdem: Schwedische Flagge – die werden sich auskennen. Wir wenden hinter ihrem Heck – Wassertiefe vier Meter, flacher muss ich es hier nicht mehr haben. Paula nimmt wieder Fahrt auf. Vor uns ein Knall, gefolgt vom Rappeln des Riggs. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was passiert ist: Die Rassy bewegt sich nicht mehr. Sie steht auf einem Stein.

Von vier oder fünf Knoten auf null gestoppt zu werden, ist so, wie wenn man mit dem Fahrrad gegen eine Mauer fährt: Da bleibt man nicht auf dem Sattel sitzen. Im Cockpit der Yacht ist niemand zu sehen. Ich bleibe in der Nähe und überlege, ob ich Sweden Traffic anfunke oder 112 wähle. Der Käpt’n taucht wieder auf. Offenbar hat er zunächst erste Hilfe geleistet, auf jeden Fall ist er handlungsfähig. Die Yacht kommt frei und tuckert langsam um den Hafen herum. Paula wendet und nimmt Kurs auf die Einfahrt. Ein Rettungswagen fährt in den Hafen.

Auch ohne Havaristen wäre das Einlaufen spannend genug: Bei diesem Seegang ist der Außenborder frühestens im kleinen Vorhafen eine Option. Bei halbem Wind möchte ich nicht mit dem Groß in einen fremden Minihafen segeln, der erkennbar keinen Platz für einen Aufschießer bietet. Also Groß runter und mit der Fock rein. Zumindest als Back-up möchte ich den Außenborder starten – doch die Sonne hat den Benzinschlauch zerlegt, der Motor kriegt keinen Sprit. Dann also ohne: Reinhühnern bei Geschaukel, im Vorhafen Blick auf den Speed – 3 Knoten. Hm. Eins. Zwei. Drei. Runter mit der Fock und hoffen, dass der Schwung gerade so reicht für die schmale Einfahrt in den Innenhafen. Es klappt. Sogar mit souveränem Anlegen. Martha und Oli lassen erstmal den Havaristen innen an der Außenmole anlegen, wo die Sanis schon warten.

Frieda hat es bis Abbekås geschafft, was beeindruckend ist bei dem Gepuste gegenan. Bernd ist begeistert von seinem Achtzehnjährigen: Geduscht von Gischtfontänen las er tapfer eine Artikel in der „Konkret“ zum Thema Klimaveränderung. Ich werde ihn mir ausleihen, wenn die Seiten noch zu entziffern sind – dieses Thema bewegt uns hier alle. Südeuropa leidet unter Rekordhitze. Bei uns ist es kühl, weil die westliche Strömung vom Atlantik kommt. Doch eine so konstante Westlage mit permanent grenzwertiger Böigkeit habe ich bei der Planung der Reise sicher nicht erwartet. Uns wird hier nichts geschenkt, wir müssen es uns erarbeiten.

Smygehuk ist bemerkenswert. Und sehenswert: Der südlichste Punkt Schwedens. Und ein ehemaliger Kalkbruch. Es sieht aus, als schwämmen die Boote in Milch. Vom Grund lösen sich bizarre, quadratmetergroße Algenpakete. Sie tauchen auf, driften ziellos herum, der Schwefelkohlenstoff entweicht. Es riecht schwefelig, bis so viel Gas entwichen ist, dass der Auftrieb nicht mehr genügt und das Paket wieder auf den Grund absinkt. Der Leuchtturm ist besteigbar, auf dem Weg dahin soll man die Kreuzottern nicht erschrecken -sie könnten dann beißen! Ich sehe zwar keine, glaube aber, auf dem Weg ihre typischen Spuren im Sand gesehen zu haben.

Für Donnerstag ist das eigentliche Ding vorgesehen: Ein langer Schlag bei passendem Wind, um für den Rest der Reise wieder Gestaltungsspielraum zu haben. Wir wollen nach…Klintholm…Rødvig…nein, doch nach Klintholm. Die Prognose ist alles andere als toll: Der Wind dreht von Südwest auf West und wieder zurück. Vierzig Meilen ohne wenigstens einen Anlieger? Das kann eigentlich nur dazu führen, dass wir Kräfte vergeuden, uns ins Nirvana segeln und die bisher perfekte Stimmung den Bach runter geht. Paula findet: Das wollen wir nicht. Wir wollen lieber den langen Schlag unterteilen, und dazu passend gibt es ja den Falsterbokanal. Die Einfahrt ist fünfzehn Meilen entfernt, im Kanal müssen wir nur eine Meile motoren und die Öffnung der Klappbrücke abwarten, dann wollen wir nochmal zehn Meilen segeln um Falsterbo herum nach Skanör. Das wäre der passende Ausgangspunkt für Samstag – bei Nordwest zwanzig Meilen rüber nach Rødvig.

Sonnenschein, Gischfontänen, Rauschefahrt – natürlich geht es nicht ohne Holeschläge, aber es ist ein wirklich toller Segeltag. Bis zwei Meilen vor Kanal der Wind einschläft. Ich zögere mit dem Naheliegenden, dem Starten des Außenborders. Schließlich ist es zu spät, mit Vollgas die Sechzehnuhrbrücke zu schaffen. Wir tuckern also gemächlich zum Vorhafen, treiben im Leerlauf mit der Strömung durch den Kanal. Zuletzt legen wir doch noch im Dreierpäckchen am Wartesteg an, als sich herausstellt, dass die Brücke keineswegs jede volle Stunde öffnet, wie das Hafenhandbuch behauptet. Wir trinken erstmal Kaffee, dann diskutieren wir die Optionen. Es ist achtzehn Uhr, als wir die Brücke passieren. Wenig Wind, zu wenig, um es zu einer halbwegs sinnvollen Zeit bis Skanör zu schaffen. Wir enden in Höllviken direkt nördlich der Brücke.

Kein herausragend schöner Hafen. Aber ein Hafen. Und ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge zu Fuß oder per Fahrrad am anstehenden Hafentag – bei West drei mit Schauerböen bis sieben oder acht bin ich ganz froh, dass wir uns nicht raus auf den Sund begeben haben. Es wäre auch schade gewesen um die Erkundung der hübschen Dünenlandschaft.

Nach der Kalkulation mit einem Schnitt von fünfzehn Meilen pro Tag haben wir fast drei Tage Rückstand, und das Wetter wird nicht besser. Nun denn – auf nach Dänemark. Die Prognose: Südwest, süddrehend 4-5 und Dauerregen. Der Plan: Acht Uhr Brücke, zurück durch den Kanal, dann Südkurs, und schließlich wenden, sobald entweder der Wind dreht oder wir südlich des Verkehrstrennungsgebiets sind. Es verspricht kein Tag zum Genießen zu werden. Den Gästen verkaufe ich ihn so: „Ihr würdet mir einen Gefallen tun, wenn ihr vorläufig nichts sagt von wegen lang oder anstrengend. Ich weiß selber, dass es so ist. Aber es lässt sich ja nicht ändern.“

Brücke und Kanal klappen reibungslos. Leichter Regen, dann klart es vorübergehen auf, und die Sonne zeigt sich sogar. Dafür mangelt es an Wind. Als Stellvertreter schickt er einen Seehund. Er ist niedlich, doch helfen kann auch er uns nicht. Um die Zeit nicht zu vergeuden, sondern zu nutzen, motoren wir wacker gegen die hohe, sanfte Dünung an, bis sich Gekräusel zeigt. In kurzer Zeit werden entfalten sich satte sechs Windstärken in einem ersten Schauer. Nach der Wende können wir den Sollkurs haargenau laufen. Wobei – oha: Der Wind dreht auf Süd, Westkurs sollte kein Problem sein, doch die Strömung gurgelt derart nordwärts, dass wir volles Rohr Höhe laufen müssen. Der Kompass zeigt 240 Grad, so eben, um Rødvig anzulegen. Gischt klatscht uns um die Ohren, fällt eimerweise vom Masttopp ins Cockpit. Dauerregen ist ein zutreffender Ausdruck, der Kartensatz weicht auf, die Bilgepumpe ackert, und ich denke: Es ist ja Wassersport… Hätt nicht der Seemann den Humor, ihm käm die See versalzen vor – hab ich mal irgendwo gelesen, es könnte am Türrahmen des Schulungsraums gewesen sein, wo das ganze hier mit einem Theoriekurs zum „Amtlichen Sportbootführerscheine See“ seinen Anfang nahm.

Es ist also tatsächlich kein Tag zum Genießen. Aber mit einer Ankunft um sechzehn Uhr zu rechnen und um Viertel nach drei das Groß zu bergen und in den Hafen zu hoppeln, gefällt mir. „Es war lang“, jammert Susanne, „und anstrengend.“ Kuchenbude aufbauen, Heizlüfter anschmeißen, Klamotten trocknen, ausruhen - morgen geht es weiter. Nun ist Rødvig kein Hafen, wo man unter normalen Umständen freiwillig hinfahren sollte: Hässlich, voll und bei Südwest ungeschützt. Das ist doch wirklich keine allzu seltene und außergewöhnliche Windrichtung – und wir haben schon die schwellgeschütztesten Plätze (nicht in jede Box passen wir von der Breite her rein, die Hecks ragen raus), doch trotzdem rollen die Boote. Der Ort ist eher eine Siedlung ohne Zentrum und Historie. Die Kalkabbrücke von Stevns Klint würden in der Sonne sicher magisch wirken, das eigentliche Highlight ist aber das Schiffsmotorenmuseum –eher ein Nischenthema, wenn man ehrlich ist.

Als ich mich zwei Stunden nach dem Anlegen halbwegs berappelt und schon wieder die nächsten Tage geplant habe, irritiert mich Geklöter aus der Nachbarschaft. Es klingt wie ein Folkeboot, dass zwischen den Pfählen steckenbleibt. Wen sehe ich, als ich den Reißverschluss der Kuchenbude öffne? Super-Frieda hat es geschafft, uns einzuholen. Als die Fender aufgeholt sind, passt sie sogar in die Box. Bernd hat mittelmäßige Laune, und meine Wechselklamotten sind auch schon wieder durchnässt, nachdem ich fünf Minuten beim Anlegen assistiert habe. Aber egal - wir sind wieder vereint! Was für ein grandioser Tag!





Naja – das nasse Spektakel hat Spuren hinterlassen: Beim Briefing wirken alle mehr als skeptisch. Vor uns liegt ein Segeltag, auf den ich mich seit Wochen riesig freue, nämlich seit wir auf dem Hinweg beschlossen, über Klintholm zu segeln und nicht durch den Bøge Strøm. Den werden wir heute aufkreuzen, und niemand außer mir kann sich vorstellen, dass das Spaß macht. Der Himmel ist wolkenverhangen, es ist böig, jeder hat eine Wetterapp, die Anderes vorhersagt als mäßigen Südwest und aufklarenden Himmel. Segelsetzen ist ein Thema: Der Hafen ist eng, auf der Einfahrt steht eine tüchtige See – wir müssen da mit Vollzeug rauskreuzen, alles andere könnte schiefgehen. ich weise auf die Fehler hin, dich man vermeiden sollte, und mache Vorschläge, wo und wie das Tuch hoch. Ich habe noch nicht ausgeredet, da wird schon widersprochen. Klar: So ist nach gestern die Stimmung. Aber meine ist jetzt miserabel. Ich habe die Fehler ja alle selbst gemacht, vor denen ich die Gäste jetzt bewahren will. Als sie noch letzte Fallen anschlagen und die Rettungswesten anziehen, legt Paula einfach ab. Wir treiben an den Kopf der Innenmole, dort setze ich die Segel, dann sausen wir los.

Man weiß es vorher ja nie, aber es läuft: Viereinhalb bis fünf Knoten, um die 190 Grad, das ist kein Anlieger, aber ein hübscher Streckbug. Wir sausen unter einem aufklarenden Himmel südwärts. Der Wind hält, nach zwei Stunden wenden wir, und kurz darauf ist die Ansteuerungstonne schon in Sicht. Martha hält mit, Frieda segelt wacker, Oliese hält sich heute zurück. Perfekt im Zeitplan erreichen wir in der Nachmittagssonne die geradlinige Baggerinne eingangs des Bøge Strøm. Jetzt beginnt der kurzweilige Teil mit einer Kreuz in kurzen Schlägen. Im weiteren Verlauf mäandriert das Fahrwasser. Zwei Stunden gilt es, voll konzentriert Tonnen zu suchen, die Wassertiefe im Blick zu behalten und Höhe zu laufen. Fast keine Welle mehr, bisweilen fünfeinhalb Knoten, kurzweiliges Segeln auf höchstem Niveau. Gegenan auf lange Strecken und in offenem Wasser ist etwas völlig anderes als dies hier: Der Bøge Strøm ist ein Spielplatz, wie geschaffen für Folkeboote.

Und dann geschieht etwas beinahe Magisches: Wir können abfallen! Halber Wind, dann raumschots – ich müsste lange nachdenken, um sagen zu können, wann wir das zuletzt hatten. Ich spare mir den Spaß, auf die letzte halbe Meile noch den Fockausbaumer aus der Vorpiek zu zerren – es ist flach, und die Ansteuerung von Nyord ist ja ein bisschen abenteuerlich: Keine Betonnung, kein Richtfeuer, aber eine schmale Rinne von hundert Metern Länge, die mit exakt zehn Grad durchfahren werden muss. So steht es jedenfalls im Hafenhandbuch des NV-Verlags, das aber bei vielen besonders idyllischen Häfen vom Anlaufen abrät. Ich berge punktgenau das Groß und gehe ungefähr auf diesen Kurs. Der Wind ist auf drei bis vier runter, fast wie bestellt. Wieder pure Magie: Wir kommen ohne Grundberührung in den Hafen. Fock runter, fast ein bisschen zu früh, ich muss tüchtig wriggen, damit Paula im Seitenwind nicht vertreibt. Der Hafen ist nicht einmal halbvoll – letztes Jahr um diese Zeit haben wir das bei zwei Windstärken mehr anders erlebt.

Weil Hannes es nach dem Anlegen triggert, raunze ich kurz meine Unzufriedenheit mit der Gruppe heraus, ihrem Zweifel an meiner Kompetenz, ihrem Hinterfragen all meiner Ideen. Beim Segelpacken ist er mucksch, dann reicht er mir ein Bier rüber. Wir stoßen an und haben das für alle Zeiten geklärt. Frieda und Oli legen an, alles ist toll und dann kommt dieser Komiker, ein deutscher Tourist, zu uns und fragt: „Tschuldigung, darf ich Sie mal was fragen? Haben Sie denn reserviert?“

Reserviert? Auf Nyord? Alle Achtung! Ich antworte: „Worum geht das denn?“ Es ist halb sieben, wer wird heute wohl noch kommen? Seinem Gestammel und sonstigem Gehabe entnehme ich, dass er hier eine Ferienwohnung hat und nichts vom Segeln und von Häfen versteht. Er erwartet aber Freunde, die ihn mit ihrer Charteryacht besuchen kommen. Er hat zwecks Reservierung den Hafenmeister angerufen (der den Job nebenbei erledigt und vermutlich einigermaßen genervt war ob dieses Anliegens). Wenn man das unbeholfene Englisch vieler deutscher Mittfünfziger kennt, kann man sich vorstellen, wie die beiden aneinander vorbeigeredet haben. Jetzt hat er wohl Panik, dass hier dauernd vier Boote aufs Mal eintreffen und in kürzester Zeit alle Plätze besetzt sein werden. „Also hat der Hafenmeister gesagt, es gibt noch freie Plätze“, fasse ich zusammen, was mir von dem Telefonat berichtet wird. Die Charteryacht läuft ein, doch sie hat wohl die falsche Box reserviert: Sie bleibt zwischen den Pfählen stecken. Nebenan passt sie rein, und alle sind glücklich.

Außer mir: Nachdem alle anderen Probleme behoben sind, funktioniert immer noch Friedas Außenborder nicht. Er verliert – Benzin? Motoröl? Getriebeöl? Außerdem startet er nicht, das Zugseil lässt sich nicht durchziehen. Ein Fall für Morgen, jetzt erstmal ein Glas Wein auf den gelungenen Tag.  Das Problem ist dann schnell unter Kontrolle: Mülltüten drum gegen die Leckage. Und dann Tausch mit Paulas – wir brauchen nicht so dringend einen funktionierenden Motor, also transportiert Paula ab heute den kaputten am Heck. In einer Flaute müssten wir allerdings geschleppt werden, das lässt sich sicher regeln. Erstmal machen wir bei West 4 Böen 6-7 einen wunderbaren Hafentag auf Nyord.

Am Mittwoch ist die Böigkeit moderater. Schönwettersegeln gibt es natürlich weiterhin nicht: Wir schleichen uns morgens kurz vor acht aus dem Hafen. Der erste Schauer, die erste fünfer Bö. Der zweite Schauer, ähnlich. Dazwischen ist es ein ruhiger Anlieger auf die Brücke bei Kalvehave hin. Die Sonne kommt raus, wir beginnen zu kreuzen. Rumms, tun wir es bei sowas wie 3-4 Böen 6. Wir reden von einem kurvenreichen, engen Fahrwasser, zehn Meter Tiefe in der Mitte, an den Rändern wird es rapide flach. Wichtiger als die Betonnung ist das Echolot. Immerhin steht hier keine Monsterwelle, sondern im Schutz der Inseln nur ein niedliches Gekabbel. Trotzdem ist Ölzeugwetter bei Sonnenschein. Mit einer Windstärke weniger wäre es netter – dann wäre auch Muße, die wundervolle Gegend zu bestaunen, reichlich Grün und wunderschöne Häuser. Jedenfalls kommt vor allem Hannes auf seine Kosten: Solche Fahrrinnen gibt es in der Schweiz nicht, und heute darf man ja wirklich beweisen, ob man segeln kann. Können alle.

In Vordingborg war ich mit Paula vor ungefähr fünfzehn Jahren mal. Notgedrungen und zwei regnerische Tage eingeweht, während des Stadtfests mit Dauerlärm und Autoscooter am Liegeplatz. Danach habe ich den Ort vermieden – der durchaus Flair hat mit der Burgruine, gute Infrastruktur bietet sowie ein tolles Restaurant, in das mich die Gäste einladen werden.

Doch zunächst müssen wir anlegen. Bei Westwind liegt der Hafen genau in Lee einer Senke an Land – eine tüchtige Düse. Doch doch, es ist weniger Wind als draußen, aber die Böigkeit bleibt, und die Option des Motorens haben wir nicht. Ich bleibe nervenstark, Paula ist souverän wie immer, irgendwann ist das Tuch unten und wir treiben an den Längsseitsplatz, den mein siebter Sinn erspäht hat. Die Hafenmeisterin will uns nochmal woandershin, hinter die andere Yacht anstatt davor, doch sie hilft kompetent beim Anlegen und findet es gut, wenn wir ein Viererpäckchen bilden.

Vierzehn Meilen waren das nur – ich bin total geschafft. Mit letzter Kraft schleppe ich mich zum Supermarkt. Dann studiere ich den Wetterbericht: Morgen ist der große Tag! Der vorletzte Reisetag muss (!!) uns ein Viertel der Gesamtstrecke bescheren. Südwest vier Böen fünf, süddrehend – das klingt wie ein Traum von einer fernen, anderen Welt, als sie sie in den letzten zehn Tagen erlebt habe. Aber nein, wir bekommen es nicht wie bestellt. Wir können nicht beliebig früh los, der Tag beginnt mit West 6-7, das müssen wir abwarten und uns sicher danach noch an der alten Welle abarbeiten. Und vor dem Dreher auf Süd sind je nach Position bis zu drei Stunden Flaute vorhergesagt – es wird also lang, zäh und anstrengend. Prognose für Freitag: Null Wind. Susanne fragt, ob wir nicht notfalls in Omø bleiben können. Ich antworte: Von da reicht der Sprit nicht.

Um sechs Uhr pfeifen grimmige Böen durch den Hafen. Auslaufen um sieben? Wir verschieben es um eine halbe Stunde, dann legt Oli doch schon um Viertel nach ab. Und wie soll man sagen? Als wir die Stør Strøm Bro und ihre Turbulenzen erstmal hinter uns haben, läuft es mit fünf bis fünfeinhalb Knoten. Vor uns kneifen die Charterboote beträchtlich Höhe. Ich habe dazu keine Lust. Der Wind dreht von Westsüdwest auf Südwest, dann nochmal auf Westsüdwest, wir wählen einen nördlicheren Kurs als ursprünglich geplant, während die Charterboote südlich von Omø durchgehen. Zeitweise verlieren wir einander außer Sicht. Im Sund zwischen Omø und Agersø läuft die Strömung mit, wir fliegen mit sieben Knoten durch. Dann bekommen wir den Südwind. Erheblicher Seegang im Store Belt, erheblicher Schiffsverkehr auf dem Tiefwasserweg, aber wir passen genau hindurch. An der Nordspitze von Langeland treffen wir uns alle wieder – ich bin nicht überrascht, es sind ja Schwestern.

Das letzte Stück müssen wir aber doch noch kreuzen. Der Wind schwächelt, kommt wieder, schwächelt erneut - ist jetzt alles egal, der Hafen ist in Sicht, und es ist noch früh an einem glorreichen Tag. Auf dem langgezogenen Flach zwischen Langeland und Fyn glaube ich zuerst eine Yacht in voller Schräglage zu sehen, wo doch gerade kaum Wind ist. Doch nein: Die Yacht ist gestrandet und gesunken. Ich habe es eilig mit der nächsten Wende.

Weil der Wind gerade wieder auf vier zunimmt, ist das Einlaufen und Anlegen ohne Motor in Lohals etwas für Fortgeschrittene. Wir fliegen erstmal eine Platzrunde. Die Erkundung ergibt: Martha und Oli sind schon drin, haben Plätze gefunden, da passen wir sicher auch noch hin. Nur mit der Fock kommen wir nicht durch die Einfahrt, im Hafen kriegen wir das Groß nicht runter. Also erstmal wieder raus. Und dann berge ich das Groß einfach in der Einfahrt. Habe ich noch nie gemacht, aber natürlich geht das wunderbar. Wir treiben an den Pfählen entlang, ich umarme einen oder zwei von ihnen, um Fahrt abzubauen, dann puzzeln wir uns in die Puzzleecke zu Martha. Sieht, glaube ich, recht souverän aus, und ich bin auch gut zufrieden. Den Ernstfall des Motorausfalls haben wir jetzt lange genug geübt. Bernd wiederum wirkt ganz glücklich mit Paulas tapferem Mercury an Friedas Heck.

Natürlich lassen wir beim Stegbier den Tag und die gesamte Reise Revue passieren. Wir stellen fest: Die vielen Hafentage waren kein Verlust, sondern eine Bereicherung. Die Segeltage auch. Wir haben es geschafft. „Gratuliere“, sagt Hannes beim Anstoßen. Und er hat Recht: Jeder Segeltag stellt uns vor eine Aufgabe. Wenn wir das Ziel erreichen, haben wir sie bewältigt. Und dazu darf man einander durchaus mal gratulieren, gerade wenn es nicht ganz so einfach war.

Freitagmorgen kurz nach sechs: Kein Lüftchen regt sich, die Verklicker zeigen in beliebige Richtungen. Fyn ist im Dunst nicht zu erkennen, als sich die Sonne über Langeland erhebt. Aber da ist ein dunkler Streifen im Wasser: Gekräusel! Ich habe den Kaffeebecher noch nicht leer, als Wind aufkommt, eine tolle Morgenbrise. Aber ich muss noch zum Klo, Zähneputzen, Aufklaren, Segel auspacken…wir versäumen einen guten Teil von ihr. An einem flautigen Tag darf man den Wind nicht vergeuden! Zwanzig nach sieben segelt Paula aus dem Hafen.

Wir segeln die ersten sechs Meilen mit guten vier Knoten. Treiben die nächsten fünf in der Strömung. Den Rest können wir wieder schöne segeln, im T-Shirt statt mit Strickpullover und Ölzeug, und weil der Wind beharrlich mit dreht, steht bis kurz vor Thurø der Fockausbaumer. Wir gruppieren uns um den Badeponton, badefreudigen Gästen zur Freude, und abends entwickelt sich dort eine letzte Stegparty. Man hat uns eine Aufgabe gestellt, und wir haben sie bewältigt. Wir haben aber noch enorm viel mehr geschafft: Es ging ja nicht nur darum, die Boote zurückzusegeln, sondern wir wollten auch den Gästen etwas bieten, sie zufriedenstellen, sie positiv überraschen und – zumindest im Fall der Schweizer – von den Vorzügen der Ostsee als Segelrevier überzeugen. Dass das bei widrigsten Bedingungen voll und ganz gelungen ist, darauf bin ich ein bisschen stolz.


weiter: Sturmtief "Hans", der kürzeste Segelschlag überhaupt und die weltbeste Passagierin

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